Es ist eigentlich der typische Hollywood-Traum, der dann am Ende doch nicht ganz wahr wird: Alle paar Jahre gelingt es einem US-Independent-Film, bei den Nominierungen zu den Oscars über Gebühr gefeiert zu werden und als Favorit gegen die etablierten Studiofilme ins Rennen zu gehen. Am Ende bleiben dann meistens "Trostpreise" wie Bestes Drehbuch übrig, weil der Oscar eben letztlich unbeirrt seinen eigenen (kommerziellen) Richtlinien folgt. Wird das so bleiben?
In diesem Jahr fordert das Indie-Fantasy-Abenteuer "Everything Everywhere All at Once" Filme wie "Elvis" (acht Nominierungen), "Die Fabelmans" (sieben), "The Banshees of Inisherin" (neun, und auch kein wirklich kommerzieller Film) oder "Top Gun: Maverick" (sechs) heraus - und überstrahlt sie alle mit insgesamt elf Nominierungen.
Es geht um Evelyn Wang (Michelle Yeoh), die Besitzerin eines Waschsalons, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen kann und Ärger mit der Finanz bekommt. Während sie die Geburtstagsfeier ihres Vaters (James Hong) vorbereitet, kommt ihr Mann Waymond (Ke Huy Quan) nicht dazu, mit ihr über die Scheidung zu sprechen. Tochter Joy (Stephanie Hsu) erzürnt die Mama, weil sie ihre Freundin mit zum Fest bringen will, obwohl ihre Mutter etwas gegen Joys sexuelle Ausrichtung hat. Kurzum: Völliges Chaos.
Ab ins Multiversum
Da tritt die Steuer-Sachbearbeiterin Deirdre Beaubeirdra (Jamie Lee Curtis) auf den Plan, und Evelyn erfährt, dass das Schicksal jeder einzelnen Dimension des Universums von ihr abhängt. Was lächerlich klingt, entpuppt sich bald als ziemlich real - und Evelyn ist mittendrin in einem abenteuerlichen Kampf im sogenannten Multiversum.
Von jetzt an wird es bunt in dieser Produktion, und der Fantasie sind keine Grenzen mehr gesetzt. Das Regie-Duo Kwan und Scheinert setzt auf eine visuell völlig überbordende Martial-Arts-Action mit viel Komik zwischen den Zeilen und einer gehörigen Portion Kultcharakter, der sich vor allem aus der Person Michelle Yeohs speist. Evelyns Ausflüge in das Multiversum sind wie kleine, eigenständige Filme für sich selbst - von einer Felsbrocken-Dramatik über eine Hommage an "Ratatouille" bis hin zu einer Verneigung vor dem Werk von Wong Kar-wai, wo Yeoh wiederum als Filmstar vor die Kamera tritt.
All das (und noch viel mehr) kann man als lodernde Hommage an das Kino an sich lesen, da muss man dann durchaus ausblenden, wie übertrieben und überladen es hier zugeht - ganz dem Filmtitel entsprechend, der ja schon einiges erahnen lässt. Die Regisseure setzen sich gerne über die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, Plausibilität und Kohärenz hinweg. Die Handlung dieses Films ist so verworren wie der Nudeltopf, der in einer frühen Szene auftaucht. Dieses Gewirr zu entwirren, würde jeden Rahmen sprengen. Was den Film für die Zuschauer auch ein Stückchen anstrengend macht. Denn er will an vielen verschiedenen Ebenen gesehen werden: Tief drin ist er ein komplexes Multiversen-Trauma, wie ein Trip in ein unbekanntes Gehirn, an der Oberfläche ist er aber auch die Geschichte einer Familie und zwischen Mutter und Tochter. Man darf gespannt sein, ob die Academy bei den Oscars ihre Begeisterung für den Film dann auch konsequent auf den Punkt bringen wird.