Bei Dieter Kosslick war immer was los: Der Mann mit Brille, Hut und rotem Schal vermochte es, der Berlinale allein schon mit seinem Charme zu Glamour zu verhelfen, ganz zu schweigen von den Kontakten, die er nach Hollywood hatte und die ihm Jahrgänge bescherten, wo es gefühlt alle drei Meter einen Superstar zu bestaunen gab.
Dieses Gefühl ist lange her. (Nicht erst) seit Carlo Chatrian die künstlerische Leitung der Berlinale übernommen hat, ist mehr Nüchternheit am roten Teppich, aber auch mehr Kunstbetrieb im Berlinale-Programm angekommen. Vorbei die Zeiten großer Blockbuster-Premieren, denn die finden inzwischen nicht einmal mehr in Cannes statt. Venedig hat das Ass im Ärmel, die US-Award-Season zu eröffnen, deshalb wollen alle großen Filme dorthin.
Chatrians Verständnis der Berlinale gerät damit zusehends unter die Räder der längst von Netflix & Co. dominierten Filmindustrie, die sich nicht lange mit Kunst aufhalten will, sondern Content liefern muss. Das sind die Pole, zwischen denen sich filmische Unterhaltung heute abspielt: Kunst für die Nische und Content für die Masse.
Die Berlinale versucht - anders als Cannes, wo man Streamer konsequent ablehnt - einen Spagat: Auch hier zeigt man unter dem Titel "Berlinale Series" neue TV-Serien, darunter etwa die Verfilmung des Bestsellers "The Swarm", an dem auch die österreichische Regisseurin Barbara Eder vier von acht Folgen der ersten Staffel inszenieren durfte. Allein: Der Autor der Romanvorlage, Frank Schätzing, der Millionen Leser mit seiner Sci-Fi-Story erreichte, in der es die Menschheit mit Meereskreaturen aufnehmen muss, äußerte sich just zur Berlinale-Premiere schockiert: "Manches ist kinoreif, anderes rühr- und redseliges Beziehungskisten-TV. Es pilchert mehr, als es schwärmt." Einen Strang in der Handlung nennt er gar "zusammengeschusterten Unsinn ohne aktuelle Relevanz".
Relevanz und Oberfläche
Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, Kinofilme und Serien zusammen auf einem Festival zu zeigen, vor allem, wenn die Abgrenzung zum Mainstream so stark ist wie auf der Berlinale, die sich im Ranking der Filmfestivals auf dem Wahrnehmungsabstieg befindet. Chatrian will eigentlich relevantes Kino zeigen, keine Oberflächlichkeiten. Daher spielt er Filme wie "The Survival of Kindness" von Rolf de Heer, eigentlich eine apokalyptische Dystopie mit einer schwarzen Frau in einem Käfig, die durch eine Welt läuft, in der die Menschheit viral dezimiert worden ist; es ist ein spontaner Film, weil der Regisseur aufgrund der Pandemie sein Wunschprojekt nicht umsetzen konnte und mit kleinem Team drehen musste. Doch er hat eine radikale Ästhetik geschaffen, die ihresgleichen sucht und trotzdem auf das Phänomen Hoffnung setzt.
Chatrian zeigt aber auch "Manodrome" von John Trengove, einen Film, in dem man sich nicht wohlfühlt, weil er (auch toxische) Männlichkeit vorführt, aber zugleich dem verstörten Protagonisten empfindsam begegnen kann: Jesse Eisenberg ist als Uber-Fahrer und werdender Vater überfordert mit seiner sozialen Lage, schließt sich einem von Adrien Brody geführten Männer-Seelsorge-Clan an, wo man enthaltsam lebt und sich gegen das weibliche Böse verschwört. Der Thriller wandert einen schmalen Grat und gelangt an einen Punkt, an dem er abstürzt.
Dass im Wettbewerb fünf deutsche Filme laufen, kann man als Bekenntnis zur deutschen Filmkunst werten oder aber so deuten, dass es internationalen Produktionen inzwischen zu wenig heimelig ist im kalten Berlin, weil der Fokus zu stark auf der Kunst liegt.
Immerhin ist die deutsche Auswahl bisher erfreulich: Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" zeigt vor allem Liebe und Leid der Autorin, die sich zu Max Frisch (Ronald Zehrfeld) hingezogen fühlt und sich von ihm löst, in eine Krise stürzt und in die Wüste geht. Es ist vor allem Vicky Krieps in der Rolle Bachmanns, die diesem sonst durchaus hölzernen Filmporträt große Sehnsucht und Lebenslust einimpft.
Mit eben diesen Dingen satt ausgestattet ist Emily Atefs "Irgendwann werden wir uns alles erzählen": Darin liebt eine 18-Jährige (famos: Marlene Burow) im ländlichen Thüringen der Wende-Zeit den Nachbars-Bauern (Felix Kramer), der doppelt so alt ist wie sie. Ein Film, der unendlich in Lust und Leidenschaft schwelgt, ohne zum Sex-Vehikel zu werden. Es liegt daran, dass Atef mit Verve schildert, welche Begierden (junge) Frauen hegen, von denen Männer keine Ahnung haben. Es ist Zeit, diese endlich zu zeigen.