"Form follows function" lautet ein alter Lehrsatz aus der Architektur, der sich auch im Film tausendfach bewährt hat: Die Form folgt der Funktion. Für einen guten Thriller etwa braucht man einen spannenden Plot, der die Zuschauer an die Kinosessel schraubt. Man braucht einen starken Helden (oder eine Heldin) und dazu Schurken, die die Protagonisten bis an deren Grenzen herausfordern. Im Ensemble sind bekannte Namen, die den Publikumszustrom anheizen, kein Fehler. Wenn man das alles beieinanderhat, kann man sich um die Form seines Films kümmern: Will man die bedrohliche Atmosphäre der schwarzen Serie erzeugen? Will man den Schwerpunkt auf Action legen oder auf raffinierte Dialoge?

Der neue Thriller "Missing" lässt all das vermissen. Hier folgt die Funktion der Form - einer sehr modernen Form. Der Film verwendet von der ersten bis zur letzten Minute jene hektische, wackelige und gleichzeitig rasante Bildsprache, die man von Mobiltelefonen und verwandten Kommunikationsgeräten kennt. Alles andere ist sekundär. Man wird einem blitzenden 110-Minuten-Bildgewitter ausgesetzt, das den Betrachtern nur selten ein paar Sekunden Ruhe zum Verweilen schenkt. Die optische Wirkung ist so intensiv, dass man glatt vergessen könnte, dass es auf der Leinwand um das Schicksal von Menschen geht.

Thriller von der Stange

Der schlicht gestrickte Krimi-Plot ist freilich nicht dazu angetan, das Publikum emotional allzu heftig in das Geschehen zu verwickeln. Der technisch eindrucksvolle Film "Missing" ist, was die Story betrifft, ein Thriller von der Stange. Im Zentrum steht June (Storm Reid), ein Teenie-Mädchen aus Los Angeles. Als sie eines Tages ihre Mutter Grace (Nia Long) vom Flughafen abholen will, die mit ihrem neuen Freund Kevin (Ken Leung) von einem Kolumbien-Urlaub zurückkehrt, muss sie beunruhigt allein wieder nach Hause fahren. Grace und Kevin waren nicht an Bord. Ihre Spur verliert sich in Kolumbien. Kein Anruf, keine Text-Nachricht, kein Mail, kein Videoclip mehr. Die beiden sind weg.

Was ist geschehen? June vertraut bei den Ermittlungen nicht auf die Polizei. Als Digital Native und begabte Datenforensikerin klemmt sie sich hinter ihre Computer, wo sie bald viel Neues über ihre Mutter erfährt. Der Kriminalfall steuert beharrlich seiner Aufklärung entgegen - die allerdings das Prädikat "an den Haaren herbeigezogen" verdient.

Spannende Thriller-Atmosphäre gibt’s in "Missing" nur in winzigen Dosen, was am Inszenierungsstil der Regisseure Will Merrick und Nick Johnson liegt. Die beiden Regie-Debütanten (sie waren 2018 beim besser gelungenen Vorgängerfilm "Searching" für den Schnitt zuständig) geben visuellen Effekten stets den Vorrang vor menschlicher Interaktion, was die bedauernswerten Schauspieler kreativ verhungern lässt. Die bekommen nur selten Gelegenheit, in Dialogszenen ihr Talent zu zeigen. Sehr häufig sind sie ganz allein im Bild und schauen mit großen Augen aus einer bzw. in eine Handy-Kamera.

Fazit: "Missing" hat gewiss das Zeug dazu, zum idealen Popcorn-Kino-Vergnügen für all jene zu werden, die ihre Zeit täglich rund um die Uhr mit ihren liebsten Lebensgefährten Smartphone, Tablet und Laptop teilen. Wer von einem Thriller jedoch eine zündende Geschichte, richtige Schauspieler und eine Optik erwartet, die mehr bietet als abfotografierte Computerbildschirme, wird sich in dieser hypernervösen Videocollage bald wie im falschen Film vorkommen.