Die Berlinale kann sich glücklich schätzen, dass der deutsche Film derzeit etwas hat, was Glücksspieler im Casino "einen Lauf" nennen: Es gab lange nicht so viele deutsche Produktionen, die international reüssierten, aber auch im eigenen Land für Begeisterung sorgen: "Im Westen nichts Neues" steuert mit seinen elf Nominierungen derzeit einer möglichen Oscar-Sensation entgegen (und wäre um ein Haar voriges Jahr im Berlinale-Programm gelandet, wurde aber nicht rechtzeitig fertig, sagt Berlinale-Chef Carlo Chatrian). Auf der Berlinale gab es außerhalb des Wettbewerbs gleich drei hochkarätige deutsche Filme zu sehen, nämlich David Wnendts Adaption des Neukölln-Bestsellers "Sonne und Beton" über abgestürzte Jugendliche in Berlin, Robert Schwentkes Groteske "Seneca", durch den John Malkovich als der römische Dichter und Berater Neros irrlichtert, und Lars Kraumes "Der vermessene Mensch" über Rassismus unter deutscher Kolonialherrschaft. Jeder Film für sich genommen vielleicht nicht brillant, aber ein starkes Ausrufezeichen deutschen Filmschaffens.
Fünf deutsche Filme
im Wettbewerb
Im Wettbewerb liefen gleich fünf deutsche Filme, was gemeinhin ein schlechtes Zeichen ist. Denn das bedeutet auch: Carlo Chatrian hat zu wenig internationale Angebote, aus denen er auswählen kann. Viele Filmemacher gehen doch lieber nach Cannes oder Venedig anstatt ins kalte Berlin. Doch auch diese alte Faustregel stimmt so nicht mehr: Denn der Versuch, Ingeborg Bachmann filmisch Herr (oder Frau) zu werden, ist Margarethe von Trotta mit über 80 Jahren ganz famos geglückt; wie magisch fügen sich ihr zuweilen hölzerner Stil mit dem literarischen Werk Bachmanns und ihrer Liebe zu Max Frisch zu einem sich gegenseitig befruchtenden Miteinander zusammen, freilich unter großer Zuhilfenahme von Ronald Zehrfeld und vor allem Vicky Krieps in der Rolle Bachmanns. Schwer vorstellbar, dass die Jury unter Kristen Stewart an "Ingeborg Bachmann: Reise in die Wüste" vorbeikommt.
Aber die deutsche Hausse geht noch weiter: Fiebrig-leidenschaftlich fängt Emily Atef in "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" die Begierde einer 18-Jährigen (Marlene Burlow) für einen 40-jährigen Bauern im Thüringen der Wendezeit ein. Deutsches Kino kann nicht nur nüchtern und bieder sein, sondern auch hochemotional und feurig in seiner Umsetzung. Marlene Burlow empfiehlt sich für einen Darsteller-Bären, aber die Konkurrenz ist - unter anderem wegen Vicky Krieps - vermutlich zu groß.
Auch Christian Petzold zeigt sich wieder auf der Höhe seiner Kunst. In "Roter Himmel", nach "Undine" der zweite Teil seiner "Elemente"-Trilogie und wieder mit Paula Beer in der Hauptrolle, lässt er sich in einem Ferienhaus an der Ostsee nieder, wo zwei Freunde sich im Namen der Kunst zurückziehen und schaffen wollen; ein befreundetes Paar bringt Unruhe und die Versuchung freier Liebe, derweil färbt sich der Himmel rot, weil sich eine verheerende Feuersbrunst anschleicht. Mit Liebe zu den Figuren entwickelt Petzold wieder magische Intensität voller Wärme und Intelligenz.
Internationale Filme,
die preiswürdig sind
Bei Angela Schanelecs "Music" geht es assoziativ zu, wie man das von dieser Regisseurin gewöhnt ist. Ein junger Mann tötet unwissentlich seinen Vater, und im Gefängnis verliebt er sich in eine Frau, die dort arbeitet, nicht wissend, dass sie seine Mutter ist. So klar wird einem die Geschichte von Schanelec aber nicht serviert, sie springt lieber in Situationen und Bilder, die manchmal schön anzusehen sind, aber nicht immer erzählt und erklärt werden.
Die Berlinale ist aber immer noch ein internationales Filmfestival, weshalb hier am Samstagabend auch das Weltkino zu prämieren sein wird. Da bietet sich zum Beispiel "Past Lives", das Debüt der US-Koreanerin Celine Song an: Sie erzählt von Young Na, die mit 12 von der Heimat Korea nach Kanada und später nach New York zieht, ihren Jugendfreund Hae Sung aber zurücklassen musste. Via Social Media findet man sich wieder, auch, als Young Na schon verheiratet ist. Hae Sung sieht immer noch die alte Young Na vor sich, doch deren Lebensvorstellungen haben sich geändert. Ein autobiografisch gefärbtes Drama um die Frage, welche Lebensentscheidungen man später bereut oder eben nicht, und wie sich alles, was man tut, auf die Zukunft auswirkt, was man aber erst in der Rückschau versteht. Ein beeindruckendes Filmdebüt. Nicht minder gefällig ist der Animationsfilm "Suzume" von Makoto Shinkai aus Japan, ein Anime-Film, in dem eine 17-Jährige versucht, Katastrophen von ihrer Heimat Japan abzuwenden. Eine Mischung aus Fantasy, Sci-Fi und Coming-of-Age in der Tradition von Hayao Miyazaki, die ihre Zuschauer auf mehreren Ebenen fasziniert und vielschichtig zu lesen ist.
Mit ihrem zweiten Langfilm "Tótem" empfiehlt sich die Mexikanerin Lila Avilés als potenzielle Preisträgerin: Sie erzählt innerhalb eines Tages und an einem Ort von der Geburtstagsfeier für einen geliebten Vater, den noch jungen Künstler Tona, der nicht mehr lange zu leben hat, weil er an Krebs leidet. Weshalb die Feier auch zum Abschied wird, die Tragik aber bald einer Zärtlichkeit und Versöhnlichkeit weicht.