Der Dokumentarfilm "Sur l'Adamant" des französischen Regisseurs Nicolas Philibert hat den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Der Film erzählt von einem Zentrum für Menschen mit psychischen Problemen in Paris. Philibert zeigte sich bei der Preisverleihung ziemlich perplex, als man ihm den Goldenen Bären überreichte: "Sind Sie sich sicher, dass Sie mir diesen Preis geben wollen", fragte er verdutzt. 

Die Kritiker und Fachleute hatten die Doku Philiberts gar nicht auf der Rechnung möglicher Preisträger - vielmehr wurde über Filme wie "Ingeborg Bachmann" von Margarethe von Trotta, "Tótem" der Mexikanerin Lila Avilés oder das Debüt der US-Koreanerin Celine Song, "Past Lives", spekuliert.

Philibert, der wiederholt an Orten dreht, an denen es um Krankheit geht (zuletzt 2019 in "Zu jeder Zeit" in einer Pflegeschule), spürt ganz sensibel dem Alltag in dieser Klinik nach, zeigt psychisch kranke Menschen und ihre Abhängigkeiten von der Behandlung, fächert auf, wie vielgestaltig die Arbeit mit Patienten sein kann und welche gesellschaftliche Funktion die Behandlung für jeden einzelnen hat. Letztlich bricht Philibert das Kranksein auf einen wesentlichen Satz herunter, den er gerne in Interviews erzählt: "Wir alle sind die Kranken der Zukunft", sagt er. Eine Distanz zum Kranksein könne sich niemand von uns ernsthaft erlauben, denn das ist der Lauf des Lebens. 

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian leiten die Berlinale seit 2020 als Doppelspitze. 
- © Katharina Sartena

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian leiten die Berlinale seit 2020 als Doppelspitze.

- © Katharina Sartena

Den Großen Preis der Jury erhielt "Roter Himmel" des deutschen Regisseurs Christian Petzold, ein Triumph für das fünffach im Wettbewerb stehende deutsche Kino. Petzold, der Berlinale-Stammgast ist, erzählt in seinem neuen Drama von Schreibblockaden, neuen Versuchungen in der Liebe und einer herannahenden Feuersbrunst.

Der Schauspielpreis ging heuer an ein Kind: Sofía Otero wurde für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle ausgezeichnet. Im Coming-of-Age-Film "20.000 especies de abejas" ("20.000 Species of Bees") spielt sie ein achtjähriges Kind, das auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität ist. Otero schlug unter anderem den Wiener Thomas Schubert, der in Petzolds Drama "Roter Himmel" die Hauptrolle spielt. Sie ist zudem die jüngste, jemals bei der Berlinale ausgezeichnete Person.

Die österreichische Schauspielerin Thea Ehre mit ihrem Silbernen Bären in Berlin. 
- © AFP / Jörg Carstensen

Die österreichische Schauspielerin Thea Ehre mit ihrem Silbernen Bären in Berlin.

- © AFP / Jörg Carstensen

Die gebürtige Welserin Thea Ehre erhielt den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle. Ehre spielt in Christoph Hochhäuslers Krimi "Bis ans Ende der Nacht" eine Transfrau, die mit einem Polizisten verdeckt im Drogenmilieu ermitteln soll. In einer Nebenkategorie gab es einen weiteren österreichischen Erfolg. Der Film "The Klezmer Project" gewann den GWFF Preis für den Besten Erstlingsfilm. Es handelt sich um eine argentinisch-österreichische Koproduktion von Leandro Koch und Paloma Schachmann.

Von Puppenspielern und der Fremdenlegion

Der deutschen Filmemacherin Angela Schanelec wurde für ihre Ödipus-Adaption "Music" der Drehbuchpreis zugesprochen. Der Franzose Philippe Garrel bekam den Silbernen Bären für die beste Regie, in seinem Film "Le grand chariot" porträtiert er eine Puppenspielerfamilie.

Der Preis der Jury ging an das Psychodrama "Mal Viver" des portugiesischen Regisseurs João Canijo, das von mehreren Frauen in einem alten Hotel erzählt. Die Kamerafrau Hélène Louvart erhielt den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung im Drama "Disco Boy". Franz Rogowski spielt darin einen Mann, der nach Frankreich flieht und der Fremdenlegion beitritt.

Die Berlinale zählt neben Cannes und Venedig zu den großen Filmfestivals. Die US-amerikanische Schauspielerin Kristen Stewart ("Spencer", "Twilight") leitete heuer die Internationale Jury. Offensichtlicht wurden bei dieser Ausgabe des Festivals die Probleme, mit denen Festivalchef Carlo Chatrian, ein bekennender Cineast, zu kämpfen hat: Viele der begehrten Titel bekommt er nicht ins Programm, weil diese Filme Cannes oder Venedig attraktiver finden. Die Berlinale braucht außerdem wieder mehr breitenwirksames Star-Kino, um für mehr internationales Aufsehen zu sorgen.