Eine Filmschau braucht immer wieder einmal frischen Wind und neue Gesichter, das ist wichtig für den Kulturbetrieb, um ihn vor dem Einrosten und dem Erstarren zu schützen. Was aber, wenn die Chemie zwischen Festivalleitung und dem Publikum so reibungslos und sympathisch läuft, wie das unter der Diagonale-Intendanz von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger der Fall ist? Auch dann braucht es einen Wechsel, weil Kunst und Kultur nicht reibungslos sein sollen, sondern gerade die Reibung ihr Fortkommen erst ermöglicht.
Dennoch verliert die Diagonale mit Ende der diesjährigen Festivalausgabe (von 21. bis 26. März in Graz) ihre beiden "Diagonale-Buben". Schernhuber und Höglinger wurden nach dem Abgang ihrer Vorgängerin Barbara Pichler im Jahr 2015 aus den eigenen Reihen des bestehenden Teams geholt; sie kannten die Diagonale bereits seit jungen Jahren – und sind doch in der achtjährigen Zeit ihrer Intendanz so jugendlich-frisch und unverbraucht geblieben, wie sie waren, als sie die Aufgabe übernahmen.
Es war das dezidierte Verdienst dieser Intendanz, nicht nur das akademisierte Filmschaffen des Landes im Programm zu berücksichtigen, sondern auch auf Strömungen außerhalb des Filmakademie-Betriebs zu reagieren, dann und wann auch kleine, eigenständig produzierte Filme herauszugreifen, die keine großen Fördergeber hatten, die eigenwillige Erzählweisen und Bildsprachen aufwiesen und letztlich dafür sorgten, die Vielfalt des österreichischen Filmschaffens umfassender abzubilden, als das jemals zuvor der Fall gewesen ist. Weil im österreichischen Filmschaffen üblicherweise schon eine Richtschnur verlegt ist, entlang derer man sich zu hangeln hat, wenn man als österreichischer Filmemacher gelten will. Dazu gehört oftmals das Siegel, an der Filmakademie studiert zu haben, noch viel öfter allerdings, die Logos der Fördergeber im Vorspann zu präsentieren. Wer die nicht hatte, galt nicht als österreichischer Film, oder wurde zumindest schief beäugt.
Darauf haben die "Diagonale-Buben" oft keine Rücksicht genommen; man vernahm plötzlich auch wirkliche Independent-Stimmen bei der Diagonale, und es bleibt zu wünschen, dass es auch unter der neuen Intendanz, bestehend aus Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar, so bleiben wird.
Die acht Jahre unter Schernhuber und Höglinger waren jedenfalls sehr befruchtende für den österreichischen Film. Die Diagonale hat dazu traditionell viel beigetragen, weil sie nicht nur Festival, sondern auch Forum für die Branche ist. Weltoffen, und doch stark lokal verankert; wenn Diagonale ist in Graz, dann beginnt meistens der Frühling. Am Thermometer und auch in den Köpfen.
Highlights der Diagonale 2023
Diagonale Eröffnungsfilm: Ein Leben lang im Club

Tom Mercier und Anais Demoustier bringen französisches Flair zur Diagonale-Eröffnung nach Graz.
- © Elsa OkazakiPatric Chihas "Das Tier im Dschungel" hatte gerade erst seine Weltpremiere im Rahmen der 73. Berlinale und wird heuer die Diagonale in Graz eröffnen. Es sind Bilder, die Sehnsüchte transportieren: Der in Paris lebende Österreicher Patric Chiha erzählt in "Das Tier im Dschungel" von einem Mann und einer Frau, die sich in einem Club treffen und voneinander angezogen fühlen. Aber sie beschließen, auf das Amouröse, das sich entspinnt, lieber zu warten, anstatt es auszuleben. Es soll ein Ereignis sein, das das ganze Leben verändern wird. Beide warten und für beide wird die Sehnsucht auch am Ende tragisch.
"Für mich hat die Geschichte dieses Paares die Kraft eines Mythos. Sie erinnert mich an unser Menschsein, dass wir Menschen immer zwischen Gegenwart und Traum, Realität und Fantasie hin- und hergerissen sind", sagt Regisseur Chiha im Gespräch. Sein Film ist eine Collage des Rätselhaften, die Handlung beginnt in den 1970er Jahren mit Disco-Musik und endet in den 90ern, in der Techno die Tanzflächen beherrschte. "Die Geschichte berührt etwas, über das niemand spricht, das aber jeder kennt: das erschreckende Gefühl, das eigene Leben zu verpassen, gerade weil man sich ein Leben über dem Leben erhofft, ein außergewöhnliches Leben, ein Leben, das man in die Zukunft projiziert", so Chiha. "Ich wollte darüber einen Film machen, weil ich mir sicher bin, dass diese Spannung zwischen Wirklichkeit und Fantasie, zwischen realem und erträumtem Leben auch etwas mit Kino zu tun hat." "Das Tier im Dschungel" als Diagonale-Opener in der Helmut-List-Halle wird diese Message in die Breite tragen: "Wir verpassen offensichtlich jeden Tag etwas, indem wir auf etwas anderes hoffen. Jedes Leben ist das Verpassen eines anderen Lebens." In den Hauptrollen sind Tom Mercier und die wunderbare Anaïs Demoustier zu sehen.
Großer Diagonale Schauspielpreis an Margarethe Tiesel
Eine Furchtlose des österreichischen Films wird am Eröffnungsabend der Diagonale am 21. März 2023 geehrt: Der Große Diagonale-Schauspielpreis für Verdienste um die österreichische Filmkultur geht in diesem Jahr an die 1959 geborene Margarethe Tiesel. Die Theater-, Film- und Fernsehdarstellerin wird den Preis – ein Kunstobjekt von Xenia Hausner – in Graz persönlich entgegennehmen.

Margarethe Tiesel: Hochverdient bekommt sie den Großen Diagonale Schauspielpreis.
- © Lex Karelly scaled"Sie gibt sich hin. Nicht nur ihrer Sehnsucht nach Intimität, als einsame Wiener Sextouristin Teresa in Ulrich Seidls Paradies: Liebe. Damit ist sie, so spät wie verdient, zu einem Star des österreichischen Films geworden. Aber egal ob in Hauptrollen, großen oder kleinen Nebenrollen – sie ist in vielen Kinofilmen seit vielen Jahren die Ingredienz, die den einen wesentlichen Unterschied macht: durch ihre Kunst, plakative genauso wie komplexe Charaktere glaubwürdig zu zeichnen, durch enormes darstellerisches Hingabevermögen und schauspielerische Großzügigkeit." So begründete die Diagonale-Schauspielerjury, bestehend aus Ute Baumhackl, Michou Friesz, Christian Konrad, Marvin Kren und Valerie Pachner, die einstimmige Entscheidung, Tiesel den Preis zu verleihen. Und weiter: "Oft und immer wieder neu gibt sie den an den Rand Gestellten, den zu kurz Gekommenen, den Traurigen und Verletzten Präsenz und Würde, Komplexität, Emotionalität und Humor. So sorgt Margarethe Tiesel, nicht selten als One-Woman-Show, für weibliche Vielfalt im deutschsprachigen Kino – vom Nordrand bis ins Hinterland, von Harald Sicheritz bis Fatih Akin."
Tiesels neuer Film, Chris Raibers "Sterne unter der Stadt", wird im Programm der Diagonale zu sehen sein, außerdem viele weitere Arbeiten der Schauspielerin.
Diagonale "In Referenz": Marisa Mell und Ludwig Wüst
Sie unterstreichen die Bedeutung wichtiger Filmkünstler: die Sonderprogramme der Diagonale, die man "In Referenz" getauft hat. In diesem Jahr steht eine Grazer Legende im Rampenlicht: Marisa Mell, in Graz als Marlies Theres Moitzi geboren, wurde zu einer Femme fatale des Kinos, nachdem sie 1959 ihren ersten Filmauftritt in "Nachtlokal zum Silbermond" unter der Regie von Wolfgang Glück absolvierte. Das war der Startschuss für eine Karriere, die sie zu den bekanntesten Schauspielerinnen Europas machte, bis weit in die 1970er Jahre.
Als einer der Fixsterne prägte Marisa Mell später die Glanzzeit des schrillen, hemmungslosen italienischen Kinos der Nachkriegsjahrzehnte und mimte neben Michel Piccoli und John Phillip Law in "Gefahr: Diabolik!" (R: Mario Bava, IT/FR 1968) etwa die Komplizin eines erfolgreichen Schurken. Im Venedig des 18. Jahrhunderts spielt indes Franz Antels Farce "Casanova & Co." (AT/FR/IT 1977), Mell ist darin an der Seite von internationalen Stars wie Tony Curtis und Marisa Berenson zu sehen. Mit "Casanova & Co." neigte sich auch Marisa Mells große Zeit in Italien langsam ihrem Ende zu – die ewig gleichen Rollen als "hübscher Aufputz" erscheinen heute ebenso belanglos wie die meisten dazugehörigen Filme.

Marisa Mell: Der "österreichischen Sophia Loren" ist ein Sonderprogramm gewidmet.
- © Filmarchiv AustriaMell versank bald in einem Strudel aus Alkohol, Drogen und Depressionen, ehe sie in Houchang Allahyaris "I love Vienna" (Ö 1991) ihren letzten Filmauftritt hatte und nur ein Jahr später im Alter von 53 Jahren starb. Was blieb, sind ihre Filme und ihr Image als "österreichische Sophia Loren", das bei der Diagonale neu entdeckt werden kann. Begleitend dazu wird es im Graz Museum die Ausstellung "Magic Marisa" zu sehen geben.
Ein konsequenter Unbeirrbarer des heimischen Films ist Ludwig Wüst. Auch ihm widmet die Diagonale ein lange fälliges Sonderprogramm. Neben seiner neuesten Arbeit "I AM HERE" im Wettbewerbsprogramm, die ihre Premiere beim Filmfestival in Rotterdam feierte, zeigt die Diagonale in Referenz dazu Wüsts unveröffentlichte Studien "ABC". Wüst, der mit eigenwilligen, radikalen Arbeiten seit jeher ein Unangepasster der Branche ist, gelangt langsam in die Nähe jener Anerkennung, die ihm schon lange zustünde.
Diagonale historisch: "Finale" und "Aktion! Action!"
Zwei historische Specials widmen sich den Themen "Finale" und "Aktion! Action". "Finale" umfasst fünf Programme, die gemeinsam mit dem Filmarchiv Austria und dem Österreichischen Filmmuseum sowie unter Mitarbeit des ORF-Archivs ausgewählt wurden. Es geht um den Hang zum Finalen, zu einer Zuspitzung im österreichischen Film, wo unter anderem Arbeiten von Florian Flicker, Michael Glawogger, Jörg Kalt, Käthe Kratz, Marvin Kren, Georg Lhotsky, Sabine Marte, Andreas Prochaska, Viktoria Schmid und Brigitte Weich auf dem Programm stehen.
"Aktion! Action!" wird von "SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien" veranstaltet und widmet sich dem Filmemacher, Kritiker und Autor Bernhard Frankfurter (1946–1999).