Die französische Regisseurin Alice Diop hat sich einen Namen als Dokumentarfilmerin gemacht und bringt nun mit "Saint Omer" (derzeit im Kino) ihren ersten Spielfilm heraus. Sie bleibt dabei ihrem naturalistischen Stil treu, erzählt aber eine überaus dramatische Geschichte: In Frankreich steht eine Afrikanerin vor Gericht, weil sie ihr Kleinkind am Strand nahe dem Wasser sich selbst überlassen haben soll - das Kind ist ertrunken und der Mutter wird ein Mordprozess gemacht. Ein realer Fall, der Frankreich 2013 erschütterte. Die Regisseurin wohnte den Verhandlungen bei. Aus dem Blickwinkel einer schwarzen Zuschauerin im Gerichtssaal rollt Diop nüchtern die Fakten auf, generiert große Spannung in einem Drama, in dem es um komplexe gesellschaftliche Gefüge und Alltagsrassismus geht.

"Wiener Zeitung": Wie politisch ist Ihr vielfach prämierter Film?

Alice Diop: Ich bin ein durch und durch politischer Mensch. Ich war viele Jahre als Aktivistin tätig, und möchte meine Energie in das stecken, was ich zu sagen habe, und das ist politisch. Seit 15 Jahren mache ich Filme über die gesellschaftlichen Ränder - die Vorstädte und Menschen, die keine Lobby haben und die niemand hört, denn das sind die Menschen, aus deren Mitte ich komme. Das habe ich seit jeher gemacht und entwickle es in meinen Filmen weiter. Meine Filme sind die Antwort auf meine politische Arbeit und meine Gedanken.

Alice Diop. - © Katharina Sartena
Alice Diop. - © Katharina Sartena

In "Saint Omer" geht es auch um die Schwierigkeit, als schwarze Frau akzeptiert zu werden.

Der Film war für mich mit einem enormen emotionalen Aufwand verbunden, aber ich fand Freude an dem, was mich während der Dreharbeiten leidenschaftlich berührte. Es war die Gelegenheit, das Porträt einer schwarzen Frau in all ihrer Komplexität zu erschaffen, wie ich es selten in einem Film gesehen oder in dem Buch gelesen habe. Ich habe diesen Film nicht gemacht, um mich mit dem Thema Kindsmord zu beschäftigen. Es ging mir darum, starke Figuren zu schaffen, die sich den Vorstellungen widersetzen, die die Menschen haben, wenn sie schwarze Frauen auf der Leinwand sehen.

Wie wollten Sie die emotional aufgeladene Erzählung aufbereiten?

Es ist ein universeller Film, der alle Frauen auf der ganzen Welt anspricht, aber ich bin mir auch bewusst, dass er in einem sehr spezifischen Kontext steht, nämlich dem einer schwarzen Frau. Es ist die Geschichte des Schmerzes und des Schweigens, die wir schwarzen Frauen ertragen müssen. Ich habe zuerst meiner Freundin den Film gezeigt, damit wir all die Tränen weinen konnten, die ich während der Dreharbeiten nicht weinen konnte. Es ist ein Film von uns und für uns - und mit "uns" meine ich schwarze Frauen.

Der Film arbeitet heraus, was es bedeutet, nicht nur schwarz zu sein, sondern auch Frau zu sein.

Wenn die Darstellung schwarzer Frauen in den USA schon fragwürdig ist, so ist das in Frankreich noch viel schlimmer. Die Hautfarbe steht immer im Mittelpunkt ihrer Geschichte, während es in meinem Film nicht das zentrale Thema ist. In "Saint Omer" geht es um Mutterschaft. Rama ist eine Universitätsprofessorin, was Aspekte meines Lebens und des Lebens meiner Freunde widerspiegelt.

Der Film besticht durch seine fast nüchterne Machart. Welches Konzept steckt dahinter?

Eine meiner ersten Entscheidungen war, dass der Film aus sehr langen Einstellungen aufgebaut sein sollte. Ich habe die Gerichtsverhandlung sehr intensiv erlebt und war auf die Dialoge zwischen dem Richter und der Angeklagten fokussiert. Diese Intensität wollte ich auch im Film wiedergeben. Seltsamerweise brachte diese Intensität einige sehr dunkle, sehr persönliche Dinge zum Vorschein, die mein Verständnis für die Person, die ich beobachtete, nicht unbedingt förderten und das verstärkte meine Faszination. Diese langen Einstellungen waren der beste Weg, um dem Publikum die Erfahrungen und Gefühle zu vermitteln, die ich während des Prozesses durchlebte Und ich wusste, dass es funktionieren würde, weil ich das auch bei meinen Dokumentarfilmen machte. Die Intensität der Dialoge wurde durch Guslagies wunderbare Darstellung sehr gut unterstützt - wir spüren nicht, wie die Zeit vergeht. Wir hängen förmlich an ihren Worten.

Womit wir bei Ihren Hauptdarstellerinnen Kayije Kagame und Guslagie Malanda wären. Lösen sie die Komplexität des Themas ein?

Die beiden Hauptfiguren sind einzigartige Frauen. Es gibt niemanden, der so ist wie sie. Sie sind äußerst vielschichtig. Rama zum Beispiel ist intelligent, aber sie ist noch nicht in ihrer vollen Kraft angekommen. In ihrer Art, mit Mutterschaft und Familienproblemen umzugehen, liegt eine enorme Zerbrechlichkeit. Wir haben das Recht, zerbrechlich und verletzlich zu sein und Formen des Kinos zu schaffen, in denen wir unsere tiefsten Wunden erforschen können.