Außenseiter sind im Werk von Darren Aronofsky eine Grundzutat. Das war schon in seinem ersten, in körnigem Schwarzweiß gedrehten Spielfilm "Pi" (1998) so: Darin erfasste die Zahl mit den unendlichen Nachkommastellen das Gemüt eines mathematikbesessenen Mannes und trieb ihn in den Wahn.
In "The Whale" ist es der Literaturprofessor Charlie (Brendan Fraser), der zum Außenseiter wird, weil es in seinem Leben so etwas wie eine Achterbahnfahrt gegeben hat: Charlie trennte sich von seiner Frau (Samantha Morton), da war seine Tochter gerade acht Jahre alt. Er verließ die Familie, weil er eine neue Liebe gefunden hatte - einen Mann. Ex-Frau und Tochter wandten sich enttäuscht und verbittert ab. Doch dann starb Charlies neue Liebe überraschend, und das riss ihn in eine tiefe Sinnkrise, die er mit Essen bekämpfte. Viel Essen. Als Aronofsky seine Erzählung beginnt, wiegt Charlie bereits 260 Kilo, ist quasi bewegungsunfähig, benötigt eine Pflegerin und weigert sich standhaft, ein Spital aufzusuchen; das Geld, das ein solcher Spitalsaufenthalt kostet, will er lieber für seine geliebte Tochter sparen. Die inzwischen 17-jährige Ellie (sehr stark: Sadie Sink) verweigert aber nach wie vor den Kontakt zum Vater.
Blutdruck-Bombe
Charlies Zustand verschlechtert sich zusehends: Die Beine voller Wasser, am Körper braune Hautflecken, ein Blutdruck von 240 zu 120 - das ist eigentlich ein Fall für den Notarzt. Aber Charlie bleibt lieber zuhause. Seine Pflegerin (Hong Chau) verzweifelt an seiner Sturheit, und als Tochter Ellie plötzlich auftaucht, muss er sich üble Schimpftiraden von ihr anhören, wo die Wörter "abstoßend" und "widerlich" noch die harmlosesten sind; geht es nach Ellie, soll der "fette" Vater am liebsten "endlich sterben".
Charlie hat offenbar genau das vor. Denn seine Heißhungerattacken in XXXL führen zu Freßorgien epochalen Ausmaßes: Zwei Familienpizzen auf einmal, dazu noch Unmengen an Junk Food, ganz egal, was, Hauptsache fett und viel. Das kann nicht lange gutgehen.
Darren Aronofsky erzählt dies alles ausschließlich im Haus von Charlie, und lässt das Publikum auch merken, wo die Geschichte ihre Genese hat. "The Whale" basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Samuel D. Hunter, der auch das Drehbuch verfasste. Es ist das Porträt eines Vereinsamten, der unter der Last seiner Seele mindestens ebenso stöhnt wie unter seiner Leibesfülle. Aronofsky verdeutlicht die Düsternis im Inneren Charlies durch eine extrem schwache Lichtsetzung, die bewusst nichts beschönigt oder stilisiert. Außerdem sperrt er Charlie in das enge 4:3-Bildformat, um ihm den Raum zu nehmen, eine neue Perspektive entwickeln zu können. All das macht "The Whale" zu einem schwer erträglichen Stück Kino, weil er jeden Feel-Good-Moment konsequent verweigert und trotzdem eine starke Sogwirkung auf den Zuschauer hat. Was auch an den Darstellern liegt. Die blank liegenden Nerven der Protagonisten ergeben nämlich großartige Szenen für die Schauspieler, die über ihre Grenzen gehen müssen. Fraser hat dafür heuer einen Oscar bekommen, und das zu Recht. Für ihn ist "The Whale" so etwas wie eine zweite Chance: Er wurde mit eher sinnfreiem Actionkino ("Die Mumie") zum Weltstar, der später tief fiel und selbst mit starken Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte. Eine Geschichte, die man (nicht nur) in Hollywood liebt: Der Gefallene, der wieder aufersteht. Und sei es halt als Außenseiter.