Ein Arbeitsklima des Misstrauens, der gegenseitigen Vernaderung, der verstohlenen Blicke, der Vorwürfe: "Das Lehrerzimmer" von Ilker Çatak, jetzt neu in den Kinos, rollt all diese Schrecklichkeiten an einer Schule aus. Hier unterrichtet die junge, idealistische Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch). Sie erfährt, dass es Fälle von Diebstählen geben soll, meist handelt es sich um kleine Mengen Bargeld. Kinder aus ihrer Klasse werden "verhört", müssen ihre Geldtaschen vorweisen, natürlich "alles freiwillig". Kinder mit Migrationshintergrund sind bei den ermittelnden Lehrern gleich doppelt so verdächtig wie deutsche. Für Carla ein Umstand, der sie stutzig macht und wütend. Weshalb sie im Lehrerzimmer ihren eigenen Sitzplatz von ihrer Laptop-Kamera überwachen lässt, in der Hoffnung, dass ihr das Geld aus der Jacke am Stuhl gestohlen wird. Und siehe da: Tatsächlich wird geklaut, aber nicht von einem Migrantenkind. Sondern von einer Mitarbeiterin der Schule, die man sogleich suspendiert. Aber auch Carla bekommt Probleme: Schon aus Datenschutzgründen hätte sie die Videoüberwachung mittels Laptop nicht durchführen dürfen. Das ruft die Kollegen, aber auch die Eltern ihrer Schüler auf den Plan.

Migrationsgeschichten

"Das Lehrerzimmer" ist ein famos gespieltes Biotop, dessen Bewohner alle beliebig ausgetauscht werden könnten: Denn egal, ob der Vorfall in einer Schule, in einem Heim oder in einer Behörde stattfinden würde: Die Message ist immer die gleiche. "Es geht um Rassismus, um Klassismus, um Sexismus und die Macht von Fake News", sagt Regisseur Ilker Çatak im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der deutsche Filmemacher hat selbst Migrationsgeschichte und wurde 1984 als Sohn türkischer Einwanderer in Berlin geboren, besuchte später eine deutschsprachige Schule in Istanbul. Gemeinsam mit einem Schulfreund verfasste er das Drehbuch zu "Das Lehrerzimmer". "Die Geschichte ist natürlich stark inspiriert von Ereignissen, die sich in unserer Schulzeit zugetragen haben", sagt Çatak. "Aber es geht um eine ganz generelle Aussage: Ich wollte zeigen, was passieren kann, wenn es in einem Arbeitsklima zu Verstimmungen und Misstrauen kommt". Çatak hat seine Erfahrungen auch in Hinblick auf den Migrationsaspekt einfließen lassen. "Vieles, was man im Film sieht, kenne ich aus eigener Erfahrung. Ich war der einzige ‚Schwarzkopf auf dem Gymnasium‘", erinnert er sich. Und: "Meine Migrationsgeschichte brachte es auch mit sich, dass ich nicht nur einmal auf eine Polizeiwache mitgenommen wurde, ohne zu wissen, wieso".

Auch die Figur der Lehrerin hat eine Migrationsgeschichte: Carla Nowak ist gebürtige Polin. "Es ist immer schwer, dieses Unbehagen, wenn man sich nicht zugehörig fühlt. Das kann auch in Verzweiflung münden, weil man dagegen so hilflos ist", so Çatak.

Schauspiel-Meisterprüfung

Für Leonie Benesch ("Babylon Berlin", "Der Schwarm") ist "Das Lehrerzimmer" eine Art Meisterprüfung im Schauspiel. Selten gab es ein nuancierteres Spiel auf deutschen Leinwänden; die junge Frau macht ihre Sache derartig überzeugend, dass man sie in Zukunft noch viel häufiger in dramatischen Rollen sehen sollte. Inhaltlich sieht auch Benesch "Das Lehrerzimmer" als einen universellen Zeitkommentar: "Ich glaube gar nicht, dass ‚Das Lehrerzimmer’ allzu sehr ein Kommentar zur Schulpolitik ist, sondern der Film nutzt den Hintergrund der schulischen Umgebung, um etwas über unsere Gesellschaft an sich zu erzählen. Meiner Meinung nach kommentiert der Film auf kluge Weise, wie wir im Moment dazu tendieren, alles verkürzt in 140 Zeichen und Schlagzeilen abzuhandeln, und dabei verlernen, einen echten Dialog miteinander zu führen. Alle versuchen ständig, sich zu definieren, sich in den Vordergrund zu spielen. Das Gemeinsame bleibt auf der Strecke".

Ein Film als Sensorium für einen gesellschaftlichen Irrweg also. Er illustriert auch, wie sich das Gefüge im Zusammenleben in den Jahren seit der Pandemie verändert hat. Ilker Çatak: "Die Wogen gehen schnell hoch, weil keiner mehr von seiner eigenen Wahrheit abweicht". Ein Problem, das jeden echten Dialog verhindert, wie man auch in "Das Lehrerzimmer" miterleben kann. "Die Grenze zwischen Fakten und Fakes verschwimmt zusehends. Wer am lautesten schreit, dem wird geglaubt". Das führe zu einer massiven Änderung im gesellschaftlichen Miteinander: Plötzlich ist das wahr, was behauptet wird, und nicht mehr das, was faktisch belegt werden kann. "Das kann zu gefährlichen Situationen führen", sagt Çatak. "Nämlich dazu, dass wir uns auf keine gemeinsame Wahrheit mehr einigen können". Ein fataler Befund für jede demokratische Gesellschaft.