In Cannes will man den Zustand der Welt ein bisschen vergessen und bereitet sich auf eine der glamourösesten Filmschauen seit langer Zeit vor. Schließlich sind mit den Weltpremieren der AppleTV+-Produktion "Killers of the Flower Moon" von Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio, Robert DeNiro und Brendan Fraser sowie mit dem fünften Teil der "Indiana Jones"-Reihe mit Harrison Ford zwei der prestigeträchtigsten Filmproduktionen des Jahres im offiziellen Programm angesetzt.
Doch es dräut Ungemach: Verschiedene Organisationen wollen die Bühne des Festivals und seine mediale Außenwirkung für Protestkundgebungen nutzen. Eine große Demo ist für den 21. Mai angekündigt, just am ersten, meist völlig überlaufenen Festival-Wochenende. Die Demonstranten wollen einen Marsch zur Prachtstraße Croisette organisieren und dort lautstark gegen die Pensionsreform von Frankreichs Präsident Macron wettern. Am besten direkt auf dem roten Teppich, heißt es von den Organisatoren, die sogar damit kokettiert hatten, dem Festival-Palais den Strom abzudrehen, falls das Festival nicht kooperativ ist.
Demoverbot in Cannes

Darauf hat die Stadtverwaltung von Cannes postwendend während des gesamten Festivals ein komplettes Demonstrationsverbot auf der Croisette verordnet. Dieses gilt im Prinzip schon seit 2016 als Reaktion auf die Terroranschläge von Nizza, jedoch hätte man sich im demonstrationsfreudigen Frankreich doch ein Entgegenkommen erhofft, um auf die sozialen Probleme im Land aufmerksam machen zu können.
Immerhin: Schon am 19. Mai wird es zu einem Aufmarsch protestierender Hotel- und Gastronomiearbeiter kommen. Das Hotel liegt zwar direkt an der Croisette, der Aufmarsch ist aber möglich, weil der Abschnitt der Straße vor dem Hotel Privatgrund ist. Wie auch immer die Stadt und das Festival die Proteste handhaben werden: Es dürfte so oder so hoch hergehen zwischen 16. und 27. Mai, denn das Festival feiert den endgültigen Sieg über die Pandemie, die der Veranstaltung in den vergangenen Jahren ziemlich zugesetzt hat - besuchertechnisch ebenso wie künstlerisch.
"Wir sind zu einem Normalzustand nach der Pandemie zurückgekehrt", findet Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Festivals. "Mit dem Gefühl, das Cannes widerspiegelt, dass sich das Kino sehr verändert hat, aber immer noch so stark wie eh und je ist. Es wurde während der Pandemie schlecht behandelt, als es seine geschlossenen Kinosäle nicht gegen den Siegeszug der Streaming-Dienste verteidigen konnte. Aber es kommt alles wieder ins Lot. Wir haben dumme Vorhersagen gelesen, dass das Publikum nie wieder in die Kinos zurückkehren würde, dass es sich nicht mehr für das Kino, sondern nur noch für Serien interessiere. Es hat sich herausgestellt, dass dies nicht der Fall ist, aber wir dürfen nicht blind sein für die Entwicklungen."
Mit Netflix ist der Festivalchef noch immer auf Kriegsfuß, weil sich der Streamingdienst standhaft weigert, seine Produktionen zumindest in Frankreich auch in die Kinos zu bringen - was eine Grundvoraussetzung ist, um in Cannes gezeigt zu werden. Aber Frémaux gibt sich zuversichtlich: "Wenn es Filme auf den Leinwänden gibt, gibt es auch Zuschauer in den Kinosälen. Dass es gute Filme sind, ist noch besser! Die Hollywood-Studios teilen diese Überzeugung, ebenso wie der Streaming-Dienst Apple, der den entscheidenden Schritt macht, Martin Scorseses Killers of the Flower Moon in die Kinos zu bringen. Es ist etwas Gutes im Gange, und ich bin sicher, dass andere Streaming-Dienste diesem Beispiel folgen werden."
Scorsese und Indiana Jones
Scorseses Film und "Indiana Jones 5" von James Mangold sind die Speerspitzen des Blockbusterkinos an der Croisette, zugleich erinnern ihre Regisseure aber daran, wie wichtig Cannes auch für die Filmkunst ist. Sowohl Scorsese als auch Mangold waren vor Jahrzehnten in Cannes, um hier ihre frühen, bahnbrechenden Filme in der Reihe "Quinzaine des réalisateurs" vorzustellen: Scorsese mit "Mean Streets" im Jahr 1973, Mangold mit "Heavy" 1995. Sich vor den alten Helden des Hollywood-Kinos zu verneigen, passt da großartig ins Konzept: So wird neben Harrison Ford auch Michael Douglas mit einer Ehrenpalme fürs Lebenswerk geehrt.
Natürlich, die bisherige Aufzählung klingt schwer nach einem Festival der sehr alten, sehr weißen Männer. Dem setzt das Festival einen Rekord entgegen: Gleich sechs Filme im Wettbewerb wurden von Frauen inszeniert. Was bei anderen Festivals normal ist, ist in Cannes eine völlige Neuheit, die auch Frémaux freut: "Dies ist einmal mehr das Ergebnis eines echten Fortschritts, der sich abzeichnet. Als weniger Frauen für das Festival ausgewählt wurden, lag das daran, dass es weniger Filmemacherinnen gab.
Das hat sich geändert. Agnès Varda würde sich freuen, das zu sehen. Ansonsten ist es in der Tat unser Rekord, aber es geht nicht nur um Arithmetik: Das Wichtigste ist, dass diese Präsenz neue Geschichten und Charaktere hervorbringt. Es gibt etwas, das dem Kino weitgehend vorenthalten wurde, eine Vision der Welt, den weiblichen Blick. Das heißt aber nicht, dass der Kampf gewonnen ist, wir sollten weiter aufmerksam sein! Cannes ist nur das letzte Glied in der Kette. Aber hoffen wir, dass ein Umdenken stattgefunden hat, dass der Trend gewürdigt wird, dass er verstärkt wird, dass er immer besser wird und dass Regisseurinnen für das Kino unverzichtbar sind."
Österreich im Wettbewerb
Heuer konkurrieren 21 Filme um die Goldene Palme, die von einer Jury unter der Leitung des vorjährigen Gewinners, des schwedischen Autors und Regisseurs Ruben Östlund, vergeben wird. Zu den am meisten erwarteten Filmen gehört "La Chimera" der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher mit Josh OConnor und Isabella Rossellini in den Hauptrollen. Oder auch Todd Haynes "May December" mit Natalie Portman als Journalistin. Wie üblich sind auch heuer zahlreiche Stammgäste im Wettbewerb vertreten, darunter Hirokazu Kore-eda ("Monster"), Wim Wenders ("Perfect Days"), Nuri Bilge Ceylan ("About Dry Grasses"), Ken Loach ("The Old Oak") und Nanny Moretti ("A Brighter Tomorrow").
Und auch die Wiener Regisseurin Jessica Hausner ist schon so etwas wie ein Stammgast, hat sie doch sämtliche ihrer Langfilme in Cannes uraufgeführt. Diesmal ist sie mit ihrem neuen Werk "Club Zero" mit Mia Wasikowska als Lehrerin an einer Eliteschule im Wettbewerb vertreten. Außerdem werden Jonathan Glazers "The Zone of Interest", Pedro Almodóvars Kurzfilm "Strange Way of Life", Wes Andersons "Asteroid City" oder das Tudor-Drama "Firebrand" mit Alicia Vikander und Jude Law mit Spannung erwartet.
Frémaux sieht in seiner Auswahl die Themen der Zeit repräsentiert. "Es gibt Filme über Gewalt gegen Frauen, rassistische und sexuelle Diskriminierung, Fragen der Kontrolle, des Geschlechts, der Unterdrückung und zum Übel des Neokapitalismus". All das wird die Croisette in den nächsten zehn Tagen beschäftigen. Oftmals in den Kinosälen, sicherlich aber auch lautstark draußen auf den Straßen.