Die ersten Festivaltage in Cannes bewiesen bereits, dass die Filmschau nicht umsonst den Ruf hat, zu allerlei gesellschaftlichen Entwicklungen Stellung zu beziehen. Hier wurde 1968 schließlich eine Festivalausgabe kurzerhand abgebrochen, weil man sich damals mit den Studentenrevolten solidarisierte.
Cannes ist aber auch und vor allem ein Platz der Dekadenz, wo im Kino viel gelitten und gestorben wird, wo dort die sozialen Ränder und die Alltagsgefahren durchdekliniert werden, wo aber abseits der Leinwände ganz widersprüchlich zur heutigen Zeit die Bankette voll mit Kaviar und Lachs, feinsten Pasteten und viel Haute Cuisine sind. Die Partys sind zurück an der Croisette, was man angesichts der letzten beiden Pandemiejahre noch ein wenig ungläubig beäugt. Cannes wirkt in diesem Jahr mehr denn je zuvor wie ein Klischee, wie eine Karikatur seiner selbst.
Ein gepuderter Johnny Depp

Aber auch die Filmauswahl von Thierry Frémaux ist in diesem Jahr voller Klischees und voller Karikaturen. Das begann schon beim Auftaktfilm "Jeanne du Barry" (außer Konkurrenz) von Maïwenn, eine erklärte Gegnerin der #MeToo-Bewegung und selbst im zarten Teenager-Alter mit dem um Vieles älteren Luc Besson liiert gewesen. Sie porträtiert unter der eigenen Regie die einstige Kurtisane des Königs Louis XV., den sie in kühner Absicht mit dem von Prügelvorwürfen gegen seine Ex-Frau freigesprochenen Johnny Depp besetzt hat. Der gibt sich ob fehlender Französisch-Kenntnisse darin recht wortkarg, wirkt in der weiß gepuderten Perücke wie eine Karikatur seiner besten Rollen, wie ein Willy Wonka, dem der Schokoladebrunnen versiegt ist. Sauer stößt auf, dass Maïwenn diese Jeanne du Barry als durchwegs schrill-hysterische Unterwerfung inszeniert und ihrem Stoff eine Vergegenwärtigung vergangener Sittenbilder verweigert.
Zu den erfreulichen Filmen im Wettbewerb gehört indes "Monster" des Japaners Kore-eda Hirokazu, der darin die Beziehung einer alleinerziehenden Mutter zu ihrem Sohn beschreibt. Als dieser zunehmend verhaltensauffällig wird und in der Schule Probleme bekommt, versucht die Mutter, die Ursache dafür herauszufinden; ein Lehrer ihres Sohnes hat diesen offenbar gedemütigt, die Direktorin der Schule versucht den Lehrer zu decken, die Entschuldigungen an die Mutter bleiben oberflächlich. Der Regisseur seziert Misstöne im gesellschaftlichen Miteinander, die es freilich nicht nur in Japan gibt, die man aber anhand der Strenge dieser Gesellschaft wie mit einem Seismograph als harte Erschütterungen festmachen kann.
Familie und Moral
Es geht um die schleichende Aushöhlung der Familie als Ort des Zusammenhalts, aber Kore-eda Hirokazu spendiert seinem Sujet nicht nur Tristesse, sondern webt auch Funken von Hoffnung mit ein. "Monster" ist als Film ein Plädoyer für den Einsatz moralischer Werte in einer zusehends unmoralischer werdenden Zeit.
Mit "Black Flies" hat Regisseur Jean-Stéphane Sauvaire einen der rasantesten Filme in den Cannes-Bewerb gebracht, den man hier je gesehen hat. Sean Penn und Tye Sheridan spielen Rettungssanitäter bei der New Yorker Berufsfeuerwehr, und die adrenalingefüllten Nächte ihrer Touren bringen sie von Herzstillstand zu Herzstillstand, von Selbstmördern zu Obdachlosen, von brutalen Schläger-Ehemännern zu (meist schwarzen) Opfern von Schusswaffengebrauch. Entlang dieser hautnah am Thema klebenden Kamera erzählt der Film von allen sozialen Brennpunkten, die die USA beschäftigen, vom unbeugsamen Patriotismus bis zur fehlenden Krankenversicherung und zurück; Sauvaire lässt dabei kein Klischee aus, aber ist es nicht eigentlich die Realität, die man hier in (nicht einmal allzu) zugespitzter Form präsentiert bekommt? Sind die ATV-Dokus, bei denen man mit Feuerwehr, Polizei oder Rettung mitfahren kann, nicht mindestens so brutal, schrill, laut und angsteinflößend? Nun ja, es macht immer noch einen Unterschied, ob einen Sean Penn auf Amerikanisch anbrüllt oder ob es ein Meidlinger Gruppenkommandant tut. Amerika ist einfach ein ungeheuer gefährliches Pflaster, will uns dieser durchaus verstörende Film versichern.
Außerhalb des Wettbewerbs überraschte Wim Wenders mit seinem Dokumentarfilm "Anselm" über den Maler Anselm Kiefer das Publikum: Wie schon sein Tanzfilm "Pina" (2011) über Pina Bausch ist "Anselm" in 3D gedreht, was dem Künstlerporträt eine ungeheure Tiefe verleiht. Die riesigen Gemälde Kiefers und sein überlebensgroßes Atelier bei Paris sorgen in Wenders 3D-Blick für unglaubliche Bilder, die Anselm Kiefer ein monumentales Filmdenkmal setzen. Selten war Kunst so intensiv, so beeindruckend, so atemberaubend.