Ganze 206 Minuten lang spannt Martin Scorsese das Publikum seines neuen Films "Killers of the Flower Moon" auf die Folter; es ist eine ungemein spannende Geschichte, die der Altmeister hier erzählt, und es ist ein wahre, die bislang kaum erzählt worden ist. Scorsese ist ganz meisterlich darin, Geschichten von großer Relevanz aufzuspüren, manchmal sind sie sehr universell, manchmal speziell, immer aber haben sie mit einem Amerika-Bild zu tun, das Scorsese nicht umsonst als problematisch einstuft.
Gehen wir davon aus, dass Scorsese am besten war, als er Filme drehte, die mit der ehrenwerten Gesellschaft, der Mafia zu tun hatten. Oder die zumindest mafiöse Umgangsformen erzählten. Dann stellt man in diese Kulisse am besten Robert De Niro und Leonardo DiCaprio, und fertig ist ein neuer Filmklassiker.

Eine überfüllte Pressekonferenz nach der Premiere von "Killers of the Flower Moon".
- © Katharina SartenaWas sich flapsig anhört, ist in "Killers of the Flower Moon" gerade Realität geworden. Scorsese pickt sich eine der breiten Masse unbekannte, wahre Geschichte heraus, die sich in den USA der 1920er Jahre zugetragen hat. Und sie erläutert ziemlich blaupausenhaft, auf welchen Füßen dieser viel zitierte amerikanische Traum vorwiegend weißer Amerikaner fußt: Auf Ausbeutung, Korruption und Mord.
In Osage County im US-Bundesstaat Oklahoma ereigneten sich zwischen 1921 und 1926 eine große Zahl von Morden an Mitgliedern der Osage-Ureinwohner. Diese Native Americans besaßen Land, auf dem eine ungeheure Menge Ölvorkommen gefunden wurde; die Folge war: Die Ureinwohner wurden quasi über Nacht zu reichen Bürgern, die sich alles leisten konnten. Allein: Die weißen Siedler wollten das nicht akzeptieren, weshalb sie begannen, mit List, Intrigen und Verbrechen das Ölvorkommen in ihren Besitz zu bringen. Zum Beispiel durch Heirat weißer Männer mit den Töchtern der Ureinwohner; anschließend wurden die Familien dieser Töchter systematisch ermordet, sei es durch Gift, inszenierte Unfälle oder brutale Morde.
Hier setzt Scorseses Handlung ein: Der einflussreiche Rancher William Hale (Robert De Niro) und dessen eher naive Neffe Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) wollen ihre Macht durch Heirat erweitern. Die Osage Mollie (herausragend: Lily Gladstone) ist ihr Ziel, Ernest heiratet sie bald. Unter den Angehörigen des Stammes kommt es zu immer mehr Todesfällen, die im Zusammenhang mit Ölbohrrechten zu stehen scheinen. Die Verbrechen sind so perfide, dass man eigentlich glauben könnte, sie würden sich von selbst lösen; aber das damals noch junge FBI kommt erst nach langer Zeit auf die Spur der Drahtzieher, die unter dem Deckmantel eines Mäzenatentums walten und schalten können, ganz nach Belieben. Doch Tom White (Jesse Plemons), ehemaliger Texas Ranger und Gesetzeshüter alter Schule, beginnt mit den Ermittlungen in Osage County, und entdeckt ganz weit verzweigte Machenschaften.
So, wie Scorsese diesen Alptraum amerikanischer Geschichte inszeniert, könnte man glauben, in einem Mafia-Film zu sitzen. Fast vier Stunden dauert der von Apple produzierte Film, und keine Minute davon langweilt er; Scorseses Epos ist eine Abrechnung mit der (weißen) amerikanischen Geschichtsschreibung, in die man als Zuschauer förmlich hineinkippen kann, auch, weil er sein Ensemble so unglaublich straff im Griff hat: De Niro und DiCaprio positionieren sich hier als einerseits bauernschlaue, zugleich höchst strategisch denkende Charaktere, die vor nichts zurückschrecken, für die Oscars 2024. Auch sonst ist das opulente Epos durchaus in vielen Kategorien preiswürdig, besonders, weil Scorsese das Verhältnis der Ureinwohner zum weißen Amerika in feinen Zwischentönen immer und immer wieder durchdekliniert. Er und sein Co-Autor Eric Roth sprechen in "Killers of the Flower Moon" über die Geburt jenes Jahrhunderts, das die Welt prägen sollte - Amerika, die Weltmacht, sie hat ihren Ursprung in bitteren Rassenideologien, abstrusen Macht-Perversionen und in der Gewissheit, dass der weiße Mann obsiegt. Der Regisseur ist mit seinem neuen Film dort angekommen, wo er seine Karriere begann: In der Schilderung von Mafia-Gewalt und Machtstreben, in der Illustration von Ausbeutung und in einer Penetranz der Darstellung, die man vorher nicht gekannt hat. Scorsese war ein Tarantino, lange, bevor es ihn eigentlich gab. Er ist sein Erfinder. Aber zum Lachen ist das nicht.
Da ist natürlich noch ein weiterer Punkt. "Killers of the Flower Moon" ist auch ein Traktat über die Hörigkeit des weißen Mannes. Denn der von DiCpario gespielte Ernest Burkhart ist keinesfalls ein aktiver Treiber der Korruption, kein Machtmensch, der auf eigene Bedürfnisse schielt; das machen andere für ihn. Während er seine Frau, die an Diabetes leidet, liebevoll pflegt, nutzen andere seine Gutgläubigkeit aus; es werden Lebensversicherungen abgeschlossen, es gibt Aktionen, die todbringend sind für seine Familienmitglieder. Und nicht immer ist er voll involviert; aber den Masterplan hat er nicht im Kopf. Den kennt nur Onkel Bill.
Die vielen Schichten über amerikanische Lebensrealitäten und ihre Misstöne hat Scorsese meisterlich in den Film verwoben. Es ist ihm nicht anzusehen, dass der Filmemacher bereits 80 Jahre alt ist, so mühelos gelingen ihm fantastische Einstellungen, Sequenzen, Kompositionen, so "en passant" wirkt das alles. Und zugleich schafft Scorsese eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann - fast vier Stunden lang!
Für das Publikum in Cannes ist "Killers of the Flower Moon" eine überwältigende Erfahrung gewesen, ob das später als Streaming-Film bei AppleTV+ genauso sein wird, bleibt zu bezweifeln. Aber sich dieser Geschichte auf einer Leinwand ohne Pause und Ablenkung in voller Länger aussetzen zu müssen, das lässt schon auch erahnen, warum das Kino erfunden wurde.