Es ist schwer zu sagen, in welche Richtung sich der Filmgeschmack von Jury-Präsident Ruben Östlund und seiner Jury am Samstag bewegen wird. Vor der Preisverleihung gibt es einige potenzielle Kandidaten für die Goldene Palme, aber keinen Film, der wirklich hervorstach; Östlund selbst hat bereits zwei Palmen gewonnen, und seine Filme sind satirisch-zynische Zuspitzungen gesellschaftlicher Zustände, die auch in ihrer Optik ein unverkennbares Design aufweisen, was aber nicht heißen muss, dass er genau solche Filme auch auszeichnen will. Im Angebot gäbe es da aber mehr als genug bei den 76. Filmfestspielen in Cannes: Zum Beispiel Wes Andersons "Asteroid City", eine durchdesignte, typische Anderson-Geschichte mit absoluter Starbesetzung, von Jason Schwartzman über Tom Hanks bis hin zu Scarlett Johansson. Aber Andersons Film zelebriert seinen Stil über die Maßen selbst, der Filmemacher ist in seinem (bei den Fans überaus beliebten) Mantra des Schrägen gefangen.

Hausner mit Chancen

Diesen Zustand teilt er sich mit dem Finnen Aki Kaurismäki, dessen neuer Film "Fallen Leaves", der der Kunst des lakonischen Regisseurs nichts Neues hinzufügen kann, aber auch wieder seine Fans bedient: Ebenfalls mit designten Bildern, ganz im Stile seines bisherigen Oeuvres. Weil Östlund auch die Strenge in der Komposition liebt, wäre sogar für Jessica Hausners "Club Zero" (die "Wiener Zeitung" berichtete) eine Goldene Palme denkbar. Auch sie nutzt ihre Geschichte - es geht um hörige Schüler und eine Lehrerin, die ein fragwürdiges Ernährungsexperiment veranstaltet - um ihren visuellen Stil durchzusetzen, um jeden Preis damit aufzufallen, auch, wenn das ihrer Geschichte diesmal nicht sehr zuarbeitet. Aber auch ihr Design ist ein Markenzeichen im Weltkino geworden, dass jemandem wie Östlund durchaus gefallen könnte.

"La passion de Dodin Bouffant": Benoit Magimel und Juliette Binoche kochen. Katharina Sartena - © Katharina Sartena
"La passion de Dodin Bouffant": Benoit Magimel und Juliette Binoche kochen. Katharina Sartena - © Katharina Sartena

Dabei inkludiert diese Liste nicht die erst Freitagabend gezeigten Wettbewerbsbeiträge "The Old Oak" von Ken Loach und "La Chimera" von Alice Rohrwacher. Loach hat selbst schon zwei Palmen, da wäre eine dritte wohl eine wirkliche Überraschung (schon die zweite für "The Wind That Shakes the Barley" aus dem Jahr 2006 hatte damals niemand auf der Rechnung). Rohrwacher wurde hingegen im Vorfeld als Favoritin gehandelt, auch, weil ihr realistisches Kino oftmals von Anflügen magischer Momente durchsetzt ist, was es wiederum stilistisch einzigartig macht. Und so etwas liebt Östlund, so etwas liebt Cannes.

Wenders’ Tokio-Toiletten

Der Wettbewerb hatte in der zweiten Festivalwoche durchaus sehenswerte Beiträge zu bieten, etwa Wim Wenders’ "Perfect Days" über einen Kloputzer in Tokio, der in schweigsamer Manier sein Tagwerk verrichtet und durch seine positive Weltsicht eine ungemein poetische Attitüde an den Tag legt, die sich - ebenfalls magisch - auf den Zuschauer überträgt. Noch nie ließ sich ein Film über Toiletten wohl als magisch bezeichnen.

Klassisch französisch (Ehepaar mit Problemen, dann eine Affäre der Frau mit dem eigenen Stiefsohn) geht es in "L’été dernier" von Catherine Breillat zu: Hier ist es die im Werk der Regisseurin omnipräsente Sexualität, die Unruhe in das bourgeoise Leben einer Familie bringt. Kulinarisch französisch hingegen der Kostümfilm "La passion de Dodin Bouffant" über einen Meisterkoch aus dem 19. Jahrhundert und dessen Köchin (Juliette Binoche), die er liebt und begehrt. Im Zentrum stehen aber die opulent zubereiteten Gerichte der französischen Küche; hier ist die Haute Cuisine der Star. Preischancen haben beide französischen Beiträge eher nicht.

Die Kritiker haben indes Jonathan Glazers "The Zone of Interest" auf der Rechnung, der das Dasein des KZ-Aufsehers von Auschwitz und seiner Frau beleuchtet, die sich neben dem Lager ein idyllisches Haus eingerichtet haben und von Heimat sprechen. Vor allem Sandra Hüller als Nazi-Gattin überzeugt und bringt sich ins Spiel um einen Darstellerpreis. Sie könnte aber auch für ihre Rolle in dem französischen Drama "Anatomy of a Fall" von Justine Triet prämiert werden, in dem sie eine undurchsichtige Schriftstellerin spielt, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird.

Auch "Four Daughters" von Kaouther Ben Hania hat Preischancen; der Film erzählt von einer Mutter, die zwei ihrer vier Töchter an den IS verloren hat, nachdem sich diese radikalisiert hatten. Auch Todd Haynes könnte zu den Gewinnern gehören: Sein "May December" mit Natalie Portman und Julianne Moore erzählt ein Liebesdrama, in dem ein großer Altersunterschied zu Problemen führt. Samstag Abend wissen wir mehr.