Cannes. Ein relativ starker Wettbewerb ging am Sonntag bei den Filmfestspielen in Cannes zu Ende. Mit "La vie d’Adèle, Chapitre 1 & 2" von Regisseur Abdellatif Kechiche wurde ein intensiv, regelrecht physisch erzählter Film prämiert, der sechs sehr prägende Jahre im Leben der 15-jährigen Adèle erzählt. Ausdrücklich verlieh die Jury unter dem Vorsitz von Steven Spielberg diese Goldene Palme aber auch an die beiden Hauptdarstellerinnen des Films, die außerordentlich talentierte Neuentdeckung Adèle Exarchopoulos und ihre Filmpartnerin Léa Seydoux. Das Reglement von Cannes erlaubt es nicht, einem Film im Hauptwettbewerb mehr als einen Preis zu verleihen, und gerade in diesem Fall ist diese Dreiteilung der Palme mehr als gerechtfertigt.

Naiv entschlossen und mit einer umwerfenden Energie spielt Exarchopoulos ihre Adèle, die gerade dabei ist, herauszufinden, ob sie lesbisch ist oder heterosexuell, und auch wie sie sich in einem Bildungsumfeld identifiziert, das ihrem Arbeiterklassen-Hintergrund, zu dem sie unreflektiert, aber überzeugt steht, teils zuwiderläuft.

Schwierige Lebensliebe

Besonders deutlich wird das, als sie sich in die um ein paar Jahre ältere Kunststudentin Emma (Seydoux) verliebt - für beide eine Lebensliebe, die schnell in einer engen Beziehung mündet, aber immer wieder auch Schwierigkeiten zu bewältigen hat.

Der in Tunis geborene Franzose Kechiche erzählt diesen Film über drei Stunden lang ganz nach klassischer Erzählweise, in einem balancierten Bogen, an dessen Ende Adèle vor unseren Augen erwachsener geworden ist.

Sein Blick ist neugierig, interessiert, nie invasiv, aber auch nicht sentimental. Wir sehen Adèle, wie sie rotzt, rülpst, schwitzt, vor Lachen grunzt und vor Schmerz fast erstickt, und Kechiches Kunst ist es hier auch, dass sie gerade in all dem niemals hässlich ist. Eine rund sieben Minuten dauernde Szene, in der Adèle und Emma miteinander schlafen, zeigt Kechiche in ebenso still neugieriger Weise. Und geführt von diesem Blick sehen auch wir, dass hier gerade so viel mehr passiert als Sex.

Exposition oder Exploitation

Dennoch war es vor allem diese Szene, die vielen nach der Premiere des Films in Erinnerung geblieben war und trotz fast einhelligen Kritikerlobs gab es dennoch kritische Stimmen. Muss man so was sehen, fragten einige. Man muss nicht, aber es soll immer Kino geben, das "so etwas" zeigen will. Dabei geht es keineswegs um Exposition oder gar Exploitation und erst recht nicht um Style over Substance - ganz im Gegensatz zu ein paar anderen Wettbewerbsbeiträgen dieses Jahr, wie etwa Nicolas Winding Refns enttäuschender Film "Only God Forgives", eine faule, selbstverliebte Stilübung.

Ein etwas bequemer, weil längst bewährter und damit risikoloser Stil stand aber auch bei vielen anderen Arbeiten dieses Wettbewerbs im Vordergrund, unter anderem auch in Alexander Paynes "Nebraska", einer Erzählung über einen alten Mann, der überzeugt ist, bei einer bloßen Kundenfang-Lotterie eine Million Dollar gewonnen zu haben und sich in den USA quer durch das halbe Land auf den Weg macht, um sein Geld auch abzuholen. Bruce Dern spielt diesen sturen Alten, der sich hier mit der Unterstützung eines Sohnes ein Stück Würde erkämpft. Dern wurde dafür mit dem Preis als bester Darsteller ausgezeichnet. Beste Darstellerin war für die Jury die Französin Bérénice Bejo, die in Asghar Farhadis "The Past" die für den iranischen Regisseur in seinen Filmen bereits charakteristische Rolle einer Frau übernimmt, die eine Veränderung herbeiführt. Als sie sich von ihrem Mann scheiden lassen will, müssen alle Beteiligten (auch ihr neuer Freund) zuerst einige Lasten aus der Vergangenheit bewältigen.

Farhadis Film stand als einer der wenigen im Wettbewerb, der nicht überdeutlich von der klassischen Hollywood-Erzählweise geprägt war. Außer eventuell noch Amat Escalantes rigid gefilmter "Heli" über einen braven jungen Mann in Mexiko, der unschuldig mit Drogenbossen in Konflikt gerät, verfolgten die meisten Regisseure den Weg des geringen Risikos. Escalante wurde mit dem Preis für beste Regie ausgezeichnet - den Preis der Jury bekam dagegen der Japaner Hirokazu Kore-Eda für seinen extrem konventionellen, wie ein TV-Film anmutenden "Like Father, Like Son", und die Cannes-Stammgäste Joel und Ethan Coen wurden für ihre launige, lineare, aber charmante Chronik aus dem Leben eines Folk-Sängers, "Inside Llewyn Davis" mit dem Großen Preis geehrt.

Die Auflehnung gegen ein System - und sei es die konventionelle Erzählform - wagten nur wenige der Filme des diesjährigen Festivals, das in seiner Programmierung generell von einem breiten Konsensus für das US-amerikanische und das doch eher sehr zugängliche Kino im Allgemeinen zeigte. Allein der Chinese Jia Zhang-ke - als einer jener, der Missstände in seinem Land auch in drastischer filmischer Form darzustellen und zu kritisieren weiß - blieb auch mit seinem Rache-episch angelegten "A Touch Of Sin" einer der unbequemeren und "unzugänglicheren" Regisseure. Die Jury würdigte dies immerhin mit dem Preis für das beste Drehbuch und in der Reihe Un Certain Regard gewann der großartige, unkonventionell agierende Kambodschaner Rithy Panh mit seinem innovativen "The Missing Image" über seine intensive Geschichte der Roten Khmer.