"Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein und gütig", schrieb Heinrich Himmler einst ins Poesiealbum seiner Tochter. Die belgisch-israelische Regisseurin Vanessa Lapa hat über die nach vielen Jahrzehnten aufgetauchten privaten Briefe des "Reichsführers SS" einen Film gedreht und zeigt die Normalität des Bösen.

Vanessa Lapa blickt in die Psyche eines Mörders. - © Filmladen
Vanessa Lapa blickt in die Psyche eines Mörders. - © Filmladen

"Wiener Zeitung": Was war der Antrieb, diesen Film zu machen?

Vanessa Lapa: Meine Familie gehörte zu den Opfern des Holocaust, aber das war nicht mein Antrieb. Denn ich habe nicht aktiv nach diesen Dokumenten über Himmler gesucht. Sie wurden mir angeboten, um etwas daraus zu machen. Mich trieb die Neugierde, in die Psyche eines Massenmörders blicken zu können.

Dann studierten Sie dutzende Briefe, Korrespondenzen, Fotos.

Himmlers Briefe hatten nichts Schönes, nichts Poetisches. Das mag daran liegen, dass ich sie regelrecht überanalysiert habe. Aber von einem Ehemann einen Liebesbrief zu bekommen, in dem er schreibt, wie sehr er seine Frau liebt, aber zugleich feststellt, dass er nicht garantieren kann, dass das immer so bleibt - das ist nicht die Art von Liebesbrief, die ich gerne bekommen würde.

Wie schrieb er an andere Menschen außerhalb der Familie?

Himmler war etwa sehr freundlich und zuvorkommend seinen Soldaten gegenüber. Er wollte nicht, dass sie an der Front leiden mussten, er wollte sie schützen und gönnte ihnen auch unterhaltsame Abende. Aber all diese Briefe, egal ob an seine Soldaten, an seinen Vater, seine Frau, hatten eine Gemeinsamkeit: Bis zur Mitte waren sie durchwegs freundlich und unterstrichen seinen Wunsch zu helfen, aber dann kippt meistens die Stimmung, und Himmler beginnt, seine Briefpartner aufzuhetzen und sie fertigzumachen.

Wie äußerte sich das zum Beispiel?

Himmler hat begonnen, verbal auszuteilen, auch, wenn er das manchmal recht subtil getan hat. Ich wusste nach einer Weile bereits, wann in einem Brief die Stimmung umschlagen und er seine Schläge austeilen würde. Sogar seine Rede über Homosexualität, die im Original sieben Seiten lang war, folgt diesem Schema. Zunächst faselt Himmler vier Seiten lang über irgendwelche Fakten, die mit dem Thema gar nichts zu tun hatten. Er zählte auf, wie viele Männer und Frauen in einzelnen Staaten lebten, wie die Regierungen funktionieren, wenn ein Mann oder eine Frau sie führt. Dann kam er auf das Thema Frauen und Kinder und dass man zur Erhaltung der Bevölkerung eben Frauen benötigt. Nun landete er bei den Homosexuellen und ab diesem Punkt legte er den Schalter um und erklärte, wie man mit ihnen zu verfahren hätte. Seine Rundumschläge kamen oft auf sehr leisen Sohlen daher, stückweise. Aber sie kamen. Immer.

Was hat Sie an den Briefen am meisten überrascht? Wie haben Sie sich gefühlt?

Ich spürte Hass und Frustration, zugleich aber auch ein Verantwortungsgefühl dem Publikum gegenüber. Ich konnte ab einem gewissen Punkt nicht mehr zurück, denn diese Geschichte gehört schließlich erzählt. Was mich erstaunte, war, dass Himmler im Prinzip ein ganz normaler Mann gewesen ist, der irgendwann in seinem Leben eine folgenschwere Entscheidung traf. Diese Entscheidung wurde möglich, weil es die politischen Umstände der Zeit zuließen. Mich hat erstaunt, dass mit Heinrich Himmler jemand zu etwas wurde, von dem man niemals angenommen hätte, dass er es wird. Um diesen Umstand herum habe ich den Film aufgebaut.

Hätte Himmler also in einer anderen Zeit gelebt, zum Beispiel im geteilten Berlin nach 1945, wäre sein Leben ganz anders verlaufen.

Das ist die Überlegung hinter dem Film. Eine solche "Karriere" hätte jedem von uns passieren können, immer abhängig von der Zeit und dem Umfeld, in dem man lebt. Hätte er woanders gelebt, wäre er nicht der Reichsführer SS geworden, sondern vielleicht ein einfacher Angestellter.