Graz. Der Maschendrahtzaun liegt immer noch gut verschlossen in einem Container. Am Brenner hätte man ihn aufstellen wollen, 370 Meter lang, eine neue Grenze mitten in Europa. Aber er kam nicht. "Die bauliche Maßnahme" heißt Nikolaus Geyrhalters neuer Dokumentarfilm, der das, was der angedrohte Zaun in den Köpfen der Menschen ausgelöst hat, einzufangen versucht.
Dabei nimmt sich der Regisseur seinem Stil getreu viel Zeit für große Totalen und für die Meinung verschiedenster Menschen, die vor der Kamera in bestem Tirolerisch Auskunft über ihre Befindlichkeiten geben - und damit ein Zeitbild Österreichs entwerfen. Egal, ob Biobauer oder Mautkassiererin, Jäger oder Arbeiter aus dem Senegal: Geyrhalters Zustandsanalyse wird umso eindringlicher, je länger der Film dauert: Sie spiegelt damit auch in großem Maße die Identität des Landes wider und verhält sich dabei zudem hochpolitisch.
Filmisches Mekka für
den Dokumentarfilm
Die Diagonale, die am Samstag mit der Preisverleihung ihren Höhepunkt findet, galt immer schon als filmisches Mekka für das Dokumentarische, und auch in diesem Jahr sind starke Arbeiten im Programm zu sehen. Richard Wilhelmer fragt in seiner Doku "Anomalie", welche Normen wir auf uns anwenden (lassen): Was ist normal, was ist verrückt? Gehirnforscher geben dazu ebenso Auskunft wie Philosophen oder Psychiater und der selbsternannte "Irre" Fritz Joachim Rudert.
Ruth Beckermanns in Berlin ausgezeichnete Doku "Waldheims Walzer" wiederum entführt in die Wahlkampfzeit der Bundespräsidentschaftswahlen 1986, als Kurt Waldheim antrat und sich trotz der schwerwiegenden Vorwürfe rund um seine NS-Vergangenheit zum Aussitzen der Angelegenheit entschloss. Er wurde mit 54 Prozent der Stimmen schließlich zum Präsidenten gewählt. Beckermann lässt diesen Wahlkampf ausschließlich in Archivaufnahmen noch einmal Revue passieren und montiert das Material sorgsam und geschickt zu einem Plädoyer für die Demokratie. Sehr persönlich erzählt Stefan Bohuns Doku "Bruder Jakob, schläfst du noch?" vom Tod eines Familienmitglieds: Jakob war einer von fünf Brüdern in der Familie des Regisseurs. Er hat sich das Leben genommen, und der Filmemacher bricht mitsamt seinen Brüdern zu einer Reise auf, um Jakobs Lebensweg zu ergründen, was ihn bis nach Portugal führt, wohin der Bruder ausgewandert war. Die Bilder sind berührend und die Trauer in jeder Einstellung spürbar.
Antonin Svoboda wiederum widmet sich in "Nicht von schlechten Eltern" drei Familien mit Babys, die besonders haarsträubende Geburtserfahrungen hinter sich haben oder deren Nachwuchs als sogenannte "Schreibabys" bezeichnet wird und dessen Schlaf-Wach-Rhythmus sich nicht und nicht einpendeln will - die körperliche und seelische Belastung für alle Beteiligten ist enorm, und die Erwachsenen können ihre Gefühle im Rahmen einer Therapie formulieren. Nicht so leicht sind allerdings die Reaktionen der Kleinen zu deuten. Svoboda findet die richtigen Bilder für dieses weithin unter den Teppich gekehrte Thema frühkindlicher Erziehung.