Venedig. Es gibt ein neues Machtspiel unter den wichtigsten Filmfestivals dieser Welt: Es geht nicht mehr darum, wer die Nummer eins ist, wer sich das "wichtigste" aller Filmfestivals nennen darf. Sondern es geht darum, wer den Richtungsstreit gewinnt, in dem sich die Filmwelt gegenwärtig befindet: Welche Bedeutung wird das Kino als Ort kultureller Auseinandersetzung, als gemeinschaftlicher Erlebnisraum haben, und welchen Stellenwert werden neue Medien wie allerorts verfügbare Streaming-Dienste erhalten, die bereits heute dem Kino und seiner (Bildschirm-)Größe mächtig zusetzen?
In zwei Lager gespalten
Gegenwärtig ist alles in zwei Lager gespalten: Da sind die, die das Kino als die einzig gültige künstlerische "Verité" betrachten, es also zur Vorbedingung machen, um Filme auszustellen. In Cannes hatte man heuer eine neue restriktive Richtlinie eingeführt, wonach Filme, die im Wettbewerb um die Goldene Palme laufen, zwingend einen Kinostart in Frankreich vorweisen müssen. Damit hat man neue Film-Fließband-Produzenten wie Netflix und Amazon de facto vom Bewerb ausgesperrt, weil diese Streaming-Giganten zwar fallweise auch Kino-Releases vorhaben, aber eben nicht nur: Dort sollen eigenproduzierte Filme zuallererst im eigenen Streaming-Portal zu sehen sein, und nicht in der klassischen Verwertungskette mit "Cinema First".
Bei Netflix kann man froh sein, wenn es überhaupt einen Kinostart gibt, ehe das Programm online verfügbar ist. Und das obwohl bei den Streamern ausgerechnet unzählige Altmeister des Kinos neue Arbeitsmöglichkeiten finden. Woody Allen hat schon für Amazon gedreht, Jim Jarmusch auch, die Liste ist endlos.
Cannes wollte ein Statement setzen gegen den Streaming-Wildwuchs, der den Fokus auf die Leinwand verwässert, die Befassung mit Bild-Ton-Komposition-Kunst. Der lieber Beliebigkeit und Masse fördert als Handschrift. Sagen die Kritiker.
Das Filmfestival von Venedig zählt ob dieser starren Haltung gegenüber den Streamingdiensten zu den Profiteuren dieses neuen Machtspiels. Denn Festivalchef Alberto Barbera macht nicht mit bei der Verweigerung von Netflix und Co. Vielmehr reibt er sich freudig die Hände, weil es dank der Cannes-Absagen zahllose hochkarätig besetzte Projekte zu ihm an den Lido verschlagen hat, die sonst möglicherweise in Cannes gelaufen wären. Barbera hat sie alle mit offenen Armen empfangen, denn seine Filmschau, die heuer mit ihrer 75. Ausgabe ein Jubiläum feiert, hatte es bis vor wenigen Jahren bitter nötig, Akzente gegen halbleere Kinosäle und maue Filmprogrammierung zu setzen; das ist geschafft, Venedig ist in alter Stärke zurück.