Es ist fraglich, ob das schlichte Freund-Feind-Schema der "Weiden" tatsächlich etwas Positives zum politischen Klima beitragen kann. - © Michael Poehn
Es ist fraglich, ob das schlichte Freund-Feind-Schema der "Weiden" tatsächlich etwas Positives zum politischen Klima beitragen kann. - © Michael Poehn

Wien. Der Vorhang fällt, der Schlusston schwindet, und es kriecht aus der Stille -  ein matter Applaus. Gewiss, er legt ein wenig zu, wenn die Hauptdarsteller an die Rampe treten, und wenn die beiden Opernschöpfer ihr Gesicht zeigen, schieben sich zwei, drei Buhs und Bravos über den dünnen Applausfilm. Insgesamt aber eine dürftige Ausbeute für die erste große Uraufführung der Wiener Staatsoper seit 2010, für einen Abend, der ein Triumph, ein Fiasko, mindestens aber ein Eklat zu werden versprach: Der österreichische Komponist Johannes Maria Staud hatte im Vorfeld erklärt, eine politische Oper schreiben zu wollen, eine beherzte Stellungnahme gegen den Rechtsruck in Europa. Prompt wurden "Die Weiden" mit einer Unzahl von Vorberichten zum "großen Aufreger" stilisiert: Die Oper der Stunde in Zeiten eines bedenklich hitzigen Lagerkampfes zwischen Links und Rechts.

Plumpes Pranger-Pathos

Fraglich aber, wie viele Stunden dieses Werk wirklich auf der Bühne zubringen wird. Das Auftragswerk der Wiener Staatsoper leidet unter erheblichen Mängeln: Dem Libretto fehlt das Niveau, der Musik streckenweise der Elan, dem Gesang die Textdeutlichkeit und der Regie jedes Feingefühl.

Fangen wir beim Text an – er stammt von Durs Grünbein. Der deutsche Autor zeichnete schon für zwei andere Staud-Opern verantwortlich, darunter "Die Antilope". Im Vorjahr war dieses Werk in Wien zu besichtigen: Im Zentrum stand, nicht unsympathisch, die Unlust eines Büromenschen an der eigenen Firmenfeier. Statt glaubwürdiger Figuren stellte Grünbein allerdings Schablonenwesen auf die Bühne und ließ sie verquaste Wortspiele aufsagen. Der Protagonist wiederum begann, aus Frust am Umfeld allmählich "antilopisch" zu sprechen: ein seltsamer Aufguss des absurden Theaters.

Dieser abgelebte Stil ist für die "Weiden" sogar noch bedeutender: Wer den Rechtspopulisten auf den Leim geht, mutiert in diesem Opernzweistünder zum Karpfen. Man denkt da schwer an Eugène Ionescos "Die Nashörner", jenes Theaterstück aus dem 1959, in dem der verführerische Faschismus die Menschen in Trampeltiere verwandelt. Grünbein garniert seine Metamorphose mit einer Liebesgeschichte: Die junge Lea hat sich in Peter verliebt, einen Mann aus dem "Land am Strom". Von dort stammen auch ihre jüdischen Eltern, mussten den Kontinent aber - man ahnt, warum - vor langer Zeit verlassen. Nun wollen Peter und Lea ebendort eine Flussreise antreten. Die Eltern warnen vor etwas Unheilvollem, das nun wieder am Strom geschehe. Doch die Verliebte schlägt die Worte in den Wind  - schon beginnt die Karpfenpopulation zu gedeihen...

Klischees und Kalauer

Eine Oper als Mahnung und Menetekel? Gewiss - die Sorge um Europas Demokratien, um Presse- und Meinungsfreiheit, Menschen- und Minderheitenrechte sind mancherorts nicht aus der Luft gegriffen. "Die Weiden" aber zeigen ein "Land am Strom" aus dem Tunnelblick einer linken Pauschalentrüstung. Steht wirklich jeder, der einen Populisten wählt, automatisch am Rande des politischen Spektrums? Was treibt Menschen an, nach Rechtsaußen zu driften?  Grünbein scheren solche Fragen nicht, er kennt innerhalb seines Braun-Weiß-Schemas nur Menschen und Karpfen, verschwendet auch hier keine Zeit auf eine Vertiefung der Charaktere. Abgesehen von Lea, der edlen Fremden, als einzige gesegnet mit dem Sensorium für den Zivilisationsbruch, stellt er Schießbudenfiguren auf die Bühne, die treffliche Zielscheiben abgeben für eine selbstgerechte Empörung. Da ist etwa Kitty, die opportunistische Ost-Schöne: Sie "weiß, was sie im Westen will", raunt das Libretto. Ihr Ehemann Edgar wiederum ist ein geschniegelter Spaßgesellschaftler und Yachtbesitzer, geht am Ende dekadent mit Mackersprüchen ("Verdammt, bin ich hier auf der falschen Party?") in einem Sturm unter. Der Rest ist ein Kaleidoskop unterschiedlicher Brauntöne, zusammengestoppelt aus Phrasen und Klischees. Ein Jäger - natürlich Gamsbart-Nazi! - schützt den "Wald vor fremden Kreaturen"; Peters gutbürgerlicher Vater  -  Salonnazi! - lässt zum Nachtisch Strudel und Schießgewehr auftischen; der Komponist Krachmeyer -  Kunstnazi! - ergeht sich, umwabert von Wagner-Zitaten, in schwerblütigen Schwafeleien über Blut, Boden und Heimat; und Peters Mutter unterstellt der Presse, dass sie "lügt wie gedruckt".

Um eine tumbe Gesinnung zu geißeln, ist Grünbein kein Wortspiel zu plump. Die Wasser der Donau - sie heißt hier Dorma - verfärben sich im Lauf der zwei zähflüssigen Opernstunden "sumpfbraun", "die Schatten werden länger". Es obsiegt zuletzt ein Volkszorn, der - Achtung, Metapher! - die Dorma über die Ufer treten lässt. Lea, mittlerweile verlassen von ihrem  Karpfenpeter, psalmodiert dann noch einen Moralinmonolog in Überlänge. Es ist schon ein Jammer: "Die Weiden" verbinden Plumpheit, Pathos und Prätention zu einem Dreiklang, den man bisher nur aus Paulo Coelhos "Der Alchimist" kannte.

Der Musik geht die Luft aus

Die Musik beginnt dagegen auf der Höhe eines Edgar Allan Poe. Nicht zum ersten Mal beweist Johannes Maria Staud seine Souveränität im Umgang mit großem Orchester. Trübe Schlierenakkorde, Moder-Klangflächen samt Elektronik und aufgepeitschte Blechkaskaden bilden eine Bedrohungskulisse, die das Publikum unter der Dirigentenhand von Ingo Metzmacher bald erschaudern lässt, bald zu überschwemmen droht. Staud leistet sich dabei auch den Luxus des Unerwarteten: Die "Legende von den Karpfenmenschen", anfangs mahnend von Leas Eltern erzählt, wird nicht im Mantel des Betroffenheitskitschs dargereicht, sondern als swingend-jiddelnde Schlagernummer und erzielt damit eine schauerliche Kontrastwirkung. Ein zweites tonales Stück setzt es zur Hochzeit von Edgar und Kitty: "Wir brennen!" heißt der tanzbare Ohrwurm, der auch in einem Musical einen schlanken Fuß machen würde und im gegebenen Schickimicki-Umfeld grotesk anmutet.

Nur leider: Auf der Langstrecke geht dieser Opernmusik die Luft aus. Was vor der Pause mächtig strömte, verkümmert danach zu einem kurzatmigen, stockenden Stückwerk aus Sprechpassagen, Elektro-Atmosphären und episodischen Versuchen, an die Klangwucht der ersten Hälfte anzuschließen. Problematisch auch, dass die Gesangstexte von Anfang an nur in seltenen Glücksfällen verständlich sind (was die Untertitelanlage unentbehrlich macht). So kämpfen die Sänger gleich mehrfach auf verlorenem Posten, schlagen sich aber sehr achtbar: darunter der formidable Tomasz Konieczny als Alberich-albtraumhafter Peter, Rachel Frenkel als lyrische Lea, Thomas Ebenstein als Edgar und Andrea Carroll als Koloraturen-zwitschernde Kitty. Udo Samel rezitiert die Schundsprechtexte des Komponisten Krachmeyer mit der Noblesse von einem anderen Stern.

Mahnen an der Rampe

Und die Regie? Andrea Moses scheint die Ansicht zu vertreten, dass sich Tiefgang auch durch eine Moralkeule erzielen lässt, die möglichst heftig auf die Bühne eindrischt: Auf einer Riesenleinwand wechseln sich anfangs saftige Donauauen und vergilbte Flüchtlingsfotos ab, später stemmen Karpfengesichter auf einem Bühnen-Dorfplatz Bierkrüge, feiern Burschenschafter grimmige Urstände und strandet Lea an einem Friedhof jüdischer Nazi-Opfer, um schlussendlich mit einem Chor der Toten mahnend an die Rampe zu treten.

Was bleibt von diesem Abend? Immerhin: Das Wissen, dass er aus guten Absichten heraus entstand. Es ist jedoch fraglich, ob das schlichte Freund-Feind-Schema der "Weiden" tatsächlich etwas Positives zum politischen Klima beitragen kann - oder ob es die Gräben zwischen Links und Rechts nicht vielmehr noch weiter vertieft.