Ende Oktober schritt er langsam zum Dirigentenpult im Wiener Musikverein: Nach einer Reihe von Absagen war Mariss Jansons, 76, doch wieder als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in den Goldenen Saal gekommen. Noch einmal dirigierte er Musik, für die er sich zeitlebens so leidenschaftlich eingesetzt hatte: eine Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Es war dies, so stand zu befürchten, aber wohl einer der letzten Auftritte des hager gewordenen, blassen Jansons. Die Vermutung hat sich leider bestätigt: Jansons ist in St. Petersburg gestorben.

Versteckt zur Welt gekommen

Jansons, Sohn des lettischen Dirigenten Arvid und der Mezzosopranistin Iraida Jansons, erblickte 1943 unter dramatischen Bedingungen das Licht der Welt: Seine jüdische Mutter gebar ihn in einem Versteck, in das sie flüchtete, nachdem ihr Vater und ihr Bruder im Rigaer Ghetto umgekommen waren. 1956 zog die Familie nach Leningrad (das heutige Sankt Petersburg), in dem Arvid Jansons zum Assistenten von Chefdirigent Jewgeni Mrawinski aufgestiegen war.

Sein Sohn Mariss studierte Dirigieren am Leningrader Konservatorium, setzte seine Ausbildung 1969 bei Hans Swarowsky und Herbert von Karajan in Österreich fort. Ebenso wie der Vater avancierte Mariss Jansons zum Assistenzdirigenten der Leningrader Philharmoniker. Internationale Beachtung fand er als Leiter des Osloer Philharmonie-Orchesters, dem er von 1979 bis 2000 vorstand. Ins Herzen des Publikums dirigierte sich Jansons aber wohl vor allem als Chef des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters, mit dem er auch in Österreich immer wieder gastierte. Seit 2003 leitete der Lette zudem das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Jansons zählte zu den großen Charismatikern des Klassik-Betriebs: Seine Hingabe, sein Detailsinn und seine Verve rissen das Publikum regelmäßig zu stehenden Ovationen hin. Dabei war er in der Konzertliteratur gleichermaßen firm wie in der Opernwelt. Vor allem der Musik des Russen Dmitri Schostakowitsch (1906—1975) fühlte er sich stark verbunden; es ist wohl nicht zuletzt Jansons fulminanter Gesamteinspielung der Symphonien zu verdanken, dass sich Schostakowitsch im heutigen Konzertbetrieb auf breiter Front durchgesetzt hat. Im nächsten Jahr hätte Jansons bei den Salzburger Festspielen "Boris Godunow" dirigieren sollen. Nicht nur dort klafft nun eine tiefe Lücke.