Beethoven war von einem Freiheitspathos beseelt, den Idealen der Französischen Revolution. Muss man überhaupt konkreter werden?

Eben nicht. Es mag zwar Werke des "Aufschreis" vor allem in der mittleren Phase geben. Der politische Impetus weicht aber mehr und mehr einem poetischen. Persönlichere Werke als die Klaviersonate op. 109 gibt es überhaupt nicht. Man hört das langsame Entstehen der Musik beim Komponieren. Musikalischer gesprochen: Fast so, als sei’s Keith Jarrett.

Tatsächlich wurde Beethoven - ähnlich wie später Keith Jarrett - von Zeitgenossen zunächst als konzertierender Improvisationskünstler bewundert. Merkt man das?

Man sollte es. Der Kopfsatz der Sonate Nr. 30 klingt ohne weiteres wie improvisiert. Das sieht man der Handschrift auch an. Beethoven hatte keine Zeit. Und hat so schnell notiert, dass nur zwei, drei Töne auf einer Seite stehen. Ich gebe mir alle Mühe, solche Stücke im Sinne spontanen Musizierens aufzuführen. So wie es bei aller Musik sein sollte.

Manche Diktatoren, die Schlimmes verursacht haben, schwärmten für klassische Musik. Ist die Annahme, dass Musik verbindet, ein Trugschluss?

Teilweise schon. Aber es gibt Gegenbeispiele. Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra ist eine sehr gute Idee. Dort spielen Musiker, die als politisch verfeindet gelten könnten, in musikalischem Einvernehmen. Das ändert politisch zwar unmittelbar immer noch nichts. Aber hilft doch. Um gegen die Abholzaktion einer kanadischen Firma vorzugehen, habe ich kürzlich ein Open-Air-Konzert auf einem Berg gespielt. Die öffentliche Aufmerksamkeit war groß, das Abholzen wurde gestoppt. Das hat freilich nicht die Musik bewirkt. Aber die Gemeinschaft, die durch sie gestiftet wurde.

Bei politischen Vorstößen von Musikern hört man als Gegenreaktion oft den Satz: "Redet nicht! Schafft!" Richtige Forderung?

Schon. Wir Künstler sind nicht zum Reden da. Warum nicht? Weil wir es nicht gut können. Hinzu kommt: Reden ist ein bisschen vergänglich. Ich kritisiere in den Sozialen Medien gern meine eigenen Konzerte. Wie schlecht der Flügel war, wie schlecht ich selber. Ich mache es eben deswegen, weil ich es für vergänglich halte. Es darf nicht nur vorübergehen. Es soll.

Das Urteil in der Türkei, wo Sie wegen Blasphemie im Internet angeklagt waren, wurde 2015 aufgehoben. Sehen Sie Ihre türkische Heimat heute anders?

Die Türkei ist die Türkei. Ich finde, die Europäer können sie teilweise nicht leicht verstehen, etwa beim Syrien-Konflikt. In der Türkei fragt man sich zu Recht, was die USA ihrerseits in Syrien tun. Wir sind Nato-Partner. Deutschland hat die Fähigkeit, politische Verhältnisse differenziert zu betrachten. Meine Kritik an Europa lautet: Einfache Vorurteile sind immer falsch. Ich stehe niemals einseitig aufseiten der Türkei. Doch ich verstehe die Frage: "Was macht Amerika hier?!" Ich halte sie für richtig.

Es gibt Ereignisse, durch die man sozusagen "gezeichnet" ist. Gehört der Prozess dazu?

Ja. Ich hatte Angst. Meine Familie und ich hatten große Sorgen. Es waren ermüdende, unfaire Jahre, in denen ich mich politisch benutzt fühlte. Ich hätte, ehrlich gesagt, Besseres verdient.