Langsam verdichtet es sich zur Gewissheit: 2020 wird wohl nicht als Beethoven-Jahr in die Geschichte eingehen. Es ist schon eine grimmige Ironie: Ausgerechnet der Geburtstag jenes Komponisten, der die Menschen verbrüdern wollte, wird durch Quarantäne-Regelungen überschattet.

Andererseits: Ganz abgeblasen ist das Jubiläum nicht. Der Klassik-Titan feiert seinen 250er mit neuen CDs (auch per Streaming verfügbar) im großen Stil, sein Werk ist bis zum letzten, vergessenen Exoten erhältlich. Ein lockendes Angebot, gerade in Tagen der unverhofften Häuslichkeit. Keine Lust, die saure Corona-Zeit mit Frühjahrsputz und Steuererklärungen totzuschlagen? Dann vielleicht einmal Beethovens Lieder mit Klavierbegleitung sichten. Matthias Goerne, der deutsche Bravour-Bariton, und der kanadische Jungpianist Jan Lisiecki haben diese "unterschätzten Werke", wie es im Booklet heißt, eingespielt.

Beethoven Lieder (DG)
Beethoven Lieder (DG)

Tatsächlich ist es nicht ganz leicht, diese Lieder zu schätzen. Stimmt zwar: Mit dem Zyklus "An die ferne Geliebte" und "Adelaide" sind Beethoven berückende Wegweiser in Richtung Romantik geglückt. Doch nicht alles, was der Bonner für Singstimme hervorgebracht hat, glänzt. Immer wieder spießen sich Liedrhythmus und Wortlänge, fehlen Luftlöcher für den Sänger, mangelt es den Stücken an Kompaktheit. Die Sechs Lieder op. 48, religiöse Gesänge nach Texten eines gewissen Christian Fürchtegott Gellert, schlenkern mitunter merkwürdig zwischen Strophenkonvention und Rezitativ-Tonfall. Beethoven, der Großmeister der Instrumentalmusik, spielt auch als Liedkomponist mit der Form, nur scheint ihm hier die nötige Sicherheit zu fehlen. Nichtsdestoweniger beschert er auch dabei feine Pointen. "Hoffen soll der Mensch! Er frage nicht!", erschallt es in dem Lied "An die Hoffnung" - gebieterische Worte, die allerdings von einem fragenden Akkord kontrastiert werden. Man könnte insgesamt vielleicht ein paradoxes Urteil über Beethovens Lieder abgeben: Dass sie zu Recht unterschätzt werden.

Víkingur Ólafsson Debussy - Rameau (DG)
Víkingur Ólafsson Debussy - Rameau (DG)

Goerne und Lisiecki hüllen diese Musik jedenfalls in stupende Schönheit. Der Bariton besitzt schier Atemluft ohne Ende und begeistert mit seinem honigsüßen, Horn-weichen Timbre; Lisiecki unterstreicht seinen Rang als Nachwuchs-Star, indem er auch Virtuoses mit makelloser Transparenz meistert.

Beachtlich auch der isländische Tasten-Kollege Víkingur Ólafsson. Sein neues Solo-Album wartet mit einer seltsamen Paarung auf: Hier kommen abwechselnd Jean-Philippe Rameau und Claude Debussy zu Wort - zwei Künstler, vereint durch ihr Heimatland Frankreich, doch getrennt durch die Jahrhunderte. Zählte Rameau zur Blüte der Barockkreativen und Musiktheoretiker, formte Debussy lichtdurchflutete Klangbilder an der Schwelle zur Moderne. Auf Basis des Kontrapunkts entwickelte aber schon der Perückenträger aus Dijon einen klangmalerischen, unmittelbaren Stil, wie Ólafsson nachweist und damit ein frappant stimmiges Album vorlegt. Zwar müsste er seine Staccati (vor allem bei Debussys "Jardins sous la pluie") nicht gar so knochenhart ins Instrument jagen; ansonsten aber öffnet gerade sein schnörkelloser Stil der Poesie Tür und Tor.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Christoph Irrgeher.
"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Christoph Irrgeher.