Wiener Zeitung": Die großen Festspiele von Aix bis Bayreuth sind abgesagt. Warum Salzburg noch nicht?
Markus Hinterhäuser: Die Totalabsagen sind nachvollziehbar. Aber sie sind kein Zeichen, mit dem ich mich vollkommen identifizieren könnte. Mir scheinen sie auch nicht das richtige Signal, vielleicht sind da Differenzierungen möglich. Das hat auch mit dem Verlauf der Zahlen in dieser Pandemie zu tun. Die geben durchaus Anlass zur Hoffnung. Womöglich wird dieser positive Verlauf ja Modifikationen nach sich ziehen, was Veranstaltungen oder Probensituationen betrifft. Vielleicht wird man dann noch das eine oder andere Zeichen setzen können. Wir versuchen, uns da einen gewissen Spielraum zu erhalten.
Die Entscheidung fällt am 30. Mai?
Spätestens. Es wird dazwischen viele politische Entscheidungen geben, was erlaubt ist und was nicht. Da können wir uns gar nicht herausnehmen. Aber ob und in welcher Form die Festspiele stattfinden, das liegt letztlich in der Hand der Politik.
Es gab Kritik, die aktuellen Maßnahmen gingen an der Realität des Kulturbetriebes vorbei. Teilen Sie das?
Das sehe ich ähnlich. Dass die Pressekonferenz von Werner Kogler und Ulrike Lunacek in vergleichsloser Weise verunglückt war, wird wohl niemand in Abrede stellen. Sie hat mehr Fragen aufgeworfen als Klärung herbeigeführt. Aber ich bin sicher, sie hat auch einen Denkprozess in Gang gesetzt hat. Auch auf politischer Ebene. So einfach wird man es sich nicht machen können: Dass man die Parameter für die Öffnung von Baumärkten eins zu eins auf Opernhäuser und Theater umlegt. Da wird man sich tiefergehende, differenzierte Gedanken machen müssen. Auch Gespräche mit Veranstaltern wären da sicher hilfreich. Wir lassen unsere Ideen da gerne einfließen.
Welche Ideen gibt es da bei den Festspielen?
Wir arbeiten an umfangreichen Vorschlägen, die unter Einhaltung aller Sicherheitsstandards Möglichkeiten eröffnen, wie man vielleicht doch zu einem Probenbetrieb oder einem reduzierten Spielbetrieb kommen könnte. Aber da muss man auch bereit sein, sich darauf einzulassen. Es geht darum, zu einer perspektivisch realistischen Lösung zu kommen. Das betrifft im Sommer die Festspiele, ab Herbst aber alle Theater-, Konzert- und Opernhäuser. Da muss es Lösungen geben, nach denen die Kulturinstitutionen ihren Kompass ausrichten können. Im Moment weiß niemand, wo Süden, Norden, Westen oder Osten ist.
Wie sehen die konkreten Lösungsansätze der Salzburger Festspiele aus?
Es fängt bei Räumlichkeiten an, die man anbieten kann für eine Probensituation. Wie können wir mit Testungen umgehen? Wie leiten wir das Publikum hinein und wieder hinaus? Können wir Veranstaltungen ohne Pause machen, um diesen Moment der Zusammenkunft zu eliminieren? Wie können wir Abstände sicherstellen, etwa mit einer losen Bestuhlung auf dem Domplatz? Es sind Fragen über Fragen. Aber wir arbeiten an einem sehr präzisen Katalog von Möglichkeiten. Den werden wir der Politik auch zukommen lassen.
Ist eine kompakte Ausgabe ab Mitte August wahrscheinlich?
Das könnte ein Szenario sein. Aber alles, was wir bedenken, wird in dem Moment Makulatur, in dem die Fall-Zahlen wieder steigen. Ich bin kein Epidemiologe, aber wir dürfen hier nicht zu schematisch sein, sondern in unseren Beurteilungen auch Differenziertheit beanspruchen. Wir müssen Lösungen finden, um die Grundversorgung des Gesellschaftlichen, des Humanen aufrechtzuerhalten. Da geht es nicht um etwas Überflüssiges. Zudem ist auch Kultur ein eminenter Wirtschaftsfaktor, von großen Festspielen bis zu ganz kleinen Veranstaltern. Da geht es auch um Arbeitsplätze. Die Frage ist: Wie kann man jetzt Kunst und Kultur trotzdem zu ihrem Recht, zum Leben verhelfen - ohne Menschen unnötig in Gefahr zu bringen?
Viele Besucher würden gerne kommen, wollen sich aber gerade im Hochsommer nicht mit Masken ins Festspielhaus setzen. Ist das ein Szenario?
Natürlich ist das auch ein Szenario. In Asien ist das Realität, auch wenn das nicht unserem Verständnis entspricht. Wir werden um gewisse Parameter, wie etwas stattfinden kann, nicht herumkommen. Wenn das jemand nicht machen will, ist das seine persönliche Entscheidung. Die Eigenverantwortung ist in dieser Krise generell ein wichtiger Aspekt, auf die wir stärker setzen müssen.
Wie funktioniert diese Eigenverantwortung aktuell?
Bis jetzt ganz gut, die Zahlen sprechen da für sich. Aber die Pandemie ist ja nicht überstanden, noch lange nicht. Jetzt muss man Module finden, wo sich eine Form von Leben wieder manifestieren kann. Auch in der Kultur. Kultur ist nicht das Vergnügen wohlhabender Menschen, die nichts anders zu tun haben. Es ist weit mehr als das. Auch ganz prosaisch: Die Festspiele haben 230 Mitarbeiter. Das sind ganz normale Berufe: Tischler, Schneider, Bühnenarbeiter. Auch für diese Menschen tragen wir Verantwortung. Wir wollen nicht, dass sie arbeitslos werden. Dafür sind wir von Karteneinnahmen abhängig. Eine gewisse Zeit lässt sich das überbrücken. Aber das geht nicht endlos.
Derzeit gelten ja auch strenge Einreisebestimmungen. Das trifft Künstler und Besucher der Festspiele, bei beiden Gruppen stammt ein Großteil nicht aus Österreich.
Das macht die Situation weiß Gott nicht leichter. Wer darf kommen, wer muss in Quarantäne? Das sind große Fragen, auf die wir auch noch keine Antworten haben.
Auf der Bühne ist Sicherheitsabstand noch schwerer einzuhalten. Ist Oper auf Distanz überhaupt realisierbar?
Wenn die sogenannten Geisterspiele im Fußball erlaubt sind: Da sind 22 Menschen im Nahkampf auf dem Feld. Man wird auch nicht Fußball spielen können mit zwei Metern Abstand. Auch bei den Künstlern gilt: Jeder ist bereit sich testen zu lassen, auch jeden zweiten Tag. Auch die Wiener Philharmoniker. Sportler werden ja auch getestet. Dass eine Probensituation mit sechs Menschen nicht möglich ist, aber ein Fußballspiel schon: diese Logik ist für mich schwer nachvollziehbar. Das ist keine Wertung, das sind einfach Fakten.
Wird in den Werkstätten gearbeitet?
Es gibt auch bei uns Kurzarbeit. Natürlich arbeiten Menschen in den Werkstätten, aber unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen.
Geht es, wie in verschiedenen Medien zu lesen, beim Stichtag 30. Mai auch um finanzielle Haftungen in Bezug auf Künstlerverträge?
Da wird so viel spekuliert. Diese Haftungsfragen sind ein sehr komplexes Thema. Da wollen wir uns in keinster Weise herausstehlen. Da gibt es moralische Fragen, aber auch juristische Tatsachen. Da muss man mit der Politik eine kluge, tragfähige und möglichst gerechte Lösung finden. Das können Institutionen nicht alleine stemmen.
Die Corona-Krise trifft die gesamte Kulturszene schwer. Viele Existenzen stehen auf dem Spiel. Wie kann ein Kulturland wie Österreich so einen Stillstand überleben?
Österreich lebt wirklich von Kultur. In vielerlei Hinsicht. Die Frage ist, wie viel ist uns diese Kultur wert? Nicht nur monetär. Welchen Stellenwert geben wir ihr? Wie gehen wir damit um, wie kommunizieren wir durch Kultur?
Künstler suchen momentan neue Wege zum Publikum, es wird gefilmt, gestreamt und online gelesen. Sind das sinnvolle Brücken zum Publikum?
Ganz sicher. Es ist auch gut, dass es gemacht wird. Aber das wird über kurz oder lang zu einer Ermüdung führen. Es geht nichts über diesen fantastischen Moment, wo man etwas gemeinsam in einem Saal etwas erlebt. Das ist eine Form von Zusammenkunft, die von einer vergleichslosen Kostbarkeit ist. Es wird die Sehnsucht bleiben nach etwas, das wirklich mit Leben zu tun hat, wo man eine andere Form von Chemie spürt, eine viel intimere Mitteilung. Diese Sehnsucht wird riesig groß werden.
Viele sprechen schon jetzt von einer neuen Wertschätzung für bisher Selbstverständliches. Wird Kunst gestärkt in ihrer gesellschaftlichen Relevanz aus der Krise hervorgehen?
Ich würde es mir wünschen. Manchmal merkt man auch erst durch den Verlust, wie wertvoll Dinge sind. Die Krise als Chance, da bin ich skeptisch. Aber natürlich wird diese Krise Vieles verändern, auch redimensionieren. Einiges wird uns plötzlich auch als gar nicht mehr als so wesentlich erscheinen. Wer weiß, vielleicht wird uns diese Redimensionierung sogar gut tun.
Künstlerinnen und Künstler nutzen Krisen seit jeher auch als Thema als Energiequelle für ihre Arbeit. Wie wird die Corona-Krise sich in der Kunst niederschlagen?
Sie wird sich niederschlagen. In den künstlerischen Produktionen, aber auch in der Attitüde, im Selbstverständnis dafür, was möglich, was wesentlich ist. Es wird wenig so sein wie vorher. Und das für eine lange Zeit. Wenn diese ganze Corona-Krise gar keinen Einfluss hätte auf künstlerische Produktionen, dann wüsste ich nicht, was noch Einfluss haben könnte.
Kunst hat in Krisenzeiten eine noch existenziellere Bedeutung, sie dient Vielen als Bewältigungsstrategie, als Trost. Was fehlt uns, wenn dieser Spiegel nicht zur Verfügung steht?
Unendlich viel. Allen von uns, auch wenn nur ein Bruchteil der Gesellschaft das aktiv wahrnimmt. Es gehört zu einer Art von Atem der Welt, das ist nicht einfach so abzutun. Kunst gehört zum Menschsein. Was uns Mozart, Schubert oder Mahler hinterlassen haben, das sind die großen Geschenke an die Menschheit. Vielleicht bilden sie wirklich so etwas wie die Grammatik unserer Existenz.