Auf zwei Bühnen will er die "Elektra" unter Strom setzen, und das Coronavirus funkt hoffentlich nicht dazwischen: Franz Welser-Möst wird die Tragödie ab 1. August in Salzburg leiten und damit eine der zwei Opernpremieren der verkürzten Festspiele; am 8. September meldet er sich damit an der Staatsoper zurück. Ein Gespräch über fragwürdige Solidaritätsrufe, feine Detailproben und die Covid-Krise hierzulande und in den USA, wo Welser-Möst das Cleveland Orchestra leitet.

"Wiener Zeitung":Wie haben Sie die Corona-Monate verbracht? Mit der Abschlussarbeit an einem autobiografischen Buch, wie man hört?

Franz Welser-Möst: Für mich war es eine geschenkte Zeit. Die Endredaktion des Buchs hätte ich sonst kaum geschafft. Überhaupt hatte ich für so vieles Zeit. Erstmals in meinem Leben habe ich im Mai im Garten meines Hauses am Attersee gearbeitet.

Haben Sie viele Auftritte verloren?

Ja, im Mai hätte ich in Cleveland arbeiten sollen, aber ich war dann durchgehend in Österreich. Am 14. März kamen meine Frau und ich mit dem Flieger aus Übersee - kurz nachdem Donald Trump verkündet hatte, der Luftverkehr nach Europa werde eingestellt.

Wie geht’s dem Cleveland Orchestra?

Besser als vielen Ensembles in den USA. Unsere Musiker sind in Kurzarbeit, wir haben vor, den Betrieb schon im Oktober wieder aufzunehmen, und arbeiten dafür an einem Sicherheitskonzept. Anderen geht es wesentlich schlechter. Die New Yorker Met hat ihr gesamtes Orchester und den Chor gewissermaßen auf die Straße gesetzt. Die haben jetzt überhaupt kein Einkommen und nicht einmal eine Krankenversicherung. Die meisten Institutionen haben ihre Vorstellungen bis Jänner abgesagt, das sind Millionenverluste.

Sie haben in Wien jüngst mit den Philharmonikern gearbeitet. Wie oft finden da Corona-Tests statt?

Das ganze Orchester ist zweimal geprüft worden. Ich muss mich jetzt testen lassen für die Salzburger Festspiele, deren Proben in dieser Woche beginnen.

Noch bis Ende Juni dürfen nur 100 Leute in einen Konzertsaal. Manche halten Orchesterauftritte unter diesen Bedingungen für Blödsinn.

Das sehe ich nicht so. Es geht zuerst um die Musik. Ich finde es richtig, ein Zeichen zu setzen, statt alle viere von sich zu strecken. Viele in unserer Branche haben gleich w. o. gegeben und keine Eigeninitiative gezeigt. Das stört mich. Man kann nicht von der Politik verlangen, dass sie in jedem Lebensbereich zu 100 Prozent Bescheid weiß. Es ist unsere Aufgabe, der Regierung ein wenig Hilfestellung zu geben. Das ist vielfach unterblieben und verdeutlicht, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, dass Vater Staat alles regelt für uns. Lösen wir uns doch ein bisschen vom Tropf der Politik!

Hat Ihre Haltung auch mit Ihrer Arbeit in Übersee zu tun, wo jeder als seines Glückes Schmied gilt?

Sicher. Dabei möcht ich betonen: Ein Sozialstaat ist wichtig, und ich finde es gefährlich, wie viele Menschen in den reichen USA nicht versichert sind. Dennoch geht das Versorgt-Sein oft mit einer Aufgabe von Selbstverantwortung einher. Außerdem finde ich es eigenartig, dass sogar Sänger mit sechsstelligem Jahreseinkommen nach dem österreichischen Staat gerufen haben. Für manche hat das Wort "Solidarität" nur eine eindimensionale Bedeutung. Wo war der Aufschrei, als die Jeunesse die Streichung ihrer Konzerte in den Bundesländern bekanntgab? Da hat man nichts gehört! Dabei geht’s hier wirklich um Menschen. In der Jeunesse hatten etliche Künstler ihre Debüts, hier sind viele von uns sozialisiert worden.

Der Tenor Michael Schade findet es in Ordnung, wenn die Honorare in Covid-Zeiten beschnitten werden. Ist das für Sie vertretbar?

Natürlich. Es gab unlängst keine Gagen, als ich mit den Philharmonikern im Wiener Musikverein aufgetreten bin. Für niemanden.

Sie dirigieren in Salzburg die "Elektra"-Premiere, wird die Arbeit wegen der Pandemie anders?

Nein. Die Produktion war langfristig geplant; der einzige Unterschied ist, dass weniger Publikum im Saal sein wird.

Sie feiern im August auch Ihren 60. Geburtstag und bringen das Buch "Als ich die Stille fand" heraus. Ein Lebensrückblick?

Es ist keine Autobiografie, aber biografisch angelegt. Ich beschäftige mich mit vier Themenblöcken. Der erste betrifft die "Education"-Arbeit, die mir wichtig ist: Wir erreichen in Cleveland pro Jahr 40.000 Schüler. Ein weiterer Punkt gilt Institutionen: Wie ist es, in den USA zu arbeiten, wie an der Wiener Staatsoper? Das dritte Gebiet ist unser Markt, der vierte Themenblock meine persönliche Herangehensweise an Musik. Ich habe das Buch mit Axel Brüggemann erarbeitet.

Sie kehren im September für einige Repertoire-Abende an die Staatsoper zurück. Hier waren Sie bis 2014 Musikdirektor, sind dann wegen Differenzen mit Direktor Dominique Meyer gegangen. Wie verstehen Sie sich mit dem künftigen Chef und bisherigen Label-Boss Bogdan Roščić?

Wir haben eine gute Gesprächsbasis. Er ist ein intelligenter Mensch und legt eine steile Lernkurve hin.

Roščić beginnt im Herbst mit Philippe Jordan als Musikdirektor. Hätte Sie das Amt nochmals interessiert?

Als ich den Posten niederlegte, war das nicht einfach ein Weggehen - sondern ein Riesenverzicht, mein Herz hat geblutet. Die Frage war: Wie weit kann ich mich künstlerisch verbiegen und etwas mitverantworten, bei dem ich anderer Meinung bin? Ein offener Konflikt hätte dem Haus geschadet, ich musste die Konsequenzen ziehen. Es hat auch einen großen Lernprozess bei mir ausgelöst: nie mehr eine feste Opernstelle.

Wirklich?

Mir wurden zwei wichtige internationale Häuser angeboten. Aber ich werde 60. Wenn Sie in einem Opernhaus etwas bewirken wollen, müssen sie mindestens zehn Jahre im Amt sein, weil der Betrieb komplex ist. Das fängt mit dem Ensemble an. Wohin entwickelt sich eine Stimme? Elisabeth Schwarzkopf ist durch kluge Planungsschritte groß geworden. Man muss aber sagen: So eine Ensemble-Arbeit findet heute weniger statt, weil die Künstler global unterwegs sind.

Sie arbeiten aber weiterhin gerne mit ausgewählten Sängern?

Ja. Bevor Asmik Grigorian 2018 als Salome in Salzburg triumphierte, habe ich eineinhalb Jahre mit ihr an der Rolle gearbeitet, Wort für Wort, Phrase für Phrase. Wir kannten einander so gut, dass wir im Festspielhaus auf 30 Metern Abstand wussten, was der andere tun würde. Da bin dann als Dirigent weit mehr als ein "Verkehrspolizist", der nur auf den geordneten Ablauf achtet. Ich habe die gleiche Arbeitsintensität nun mit Aušrine Stundyte für ihre Elektra in diesem Salzburger Sommer eingesetzt. Es geht nicht nur darum, dass alles schön und verständlich gesungen wird, sondern auch um den Subtext der Worte. Das ist eine andere Arbeit als mit den Stars der Opernszene.

Inwiefern?

Die Stars kommen oft erst ein paar Tage vor der Premiere mit einer fertigen Interpretation - da mache ich nicht mehr mit. Dieses Verhalten kann zwar nachvollziehbare Gründe haben. Regie-Quereinsteiger aus dem Sprechtheater erarbeiten sich ein Stück oft als Work in Progress; die Stars haben keine Lust, dem Neuling sechs Wochen lang eine Oper zu erklären. Wenn Sänger aber erst kurz vor der Premiere eintreffen, entsteht kein Gesamtkunstwerk.

Führt Ihre Detailliebe eventuell dazu, dass Sie irgendwann nur noch Oper in Salzburg dirigieren?

Es ist ein Privileg des Älterwerdens, dass man wählerischer wird. Ich habe in meinem Leben so viele Opern dirigiert, mein Repertoire ist riesig. Jetzt ist die Zeit der Ernte. Ich mache nur noch, was mich wirklich interessiert.