Aufs Erste wenig überraschend, was der englische Komponist David Bruce jüngst in seinem YouTube-Kanal erzählt hat: Evolutionspsychologen aus New York haben die Hitparade daraufhin untersucht, wie viele Songs in den Top-Ten eines Jahres erotisch gefärbt waren. Ergebnis: Ganze 92 Prozent enthielten sogenannte "reproduktive Botschaften" - womit die Forscher Passagen meinten, die vom Umbuhlen eines Gegenübers erzählen oder auf gewisse Körperteile anspielen. So weit, so vorhersehbar. Bemerkenswert ist allerdings: Diese Wissenschafter haben auch die Kunstmusik der vergangenen 400 Jahre auf libidinösen Gehalt abgeklopft, und sie sind zu einem ähnlichen Befunden gelangt.
Kann das denn sein? Natürlich - man mag einwenden, dass sich Kunstlied und Oper einer prinzipiell anderen Diktion befleißigen als, sagen wir einmal, ein Goldketten-behängter Gangster-Rapper aus der Bronx. Dennoch: Wer in der holden Klassik nach knisterndem Inhalt forscht, wird überreich belohnt.
"Dirty Minds", das Album der Niederländerin Olivia Vermeulen, spricht diesbezüglich Bände. Die Sängerin mit dem filigranen, doch quicklebendigen Mezzo arbeitet sich durch Liedgut aus insgesamt fünf Jahrhunderten; der Bogen reicht vom sinnenfreudigen Barock eines Henry Purcell, vertreten durch die ornamentreiche Knutsch-Hymne "Sweeter Than Roses", bis hin zu einem Lied des US-Amerikaners Jake Heggie, das seinem Titel "Animal Passion" jazzig-lasziv zuarbeitet.

Gewiss, nicht alle Beiträge strotzen gleichermaßen vor Triebenergie. Bemerkenswert aber, wie viel erotischer Pfeffer auch in das Liedgut der Wiener Klassik eingehen konnte. Etwa bei Wolfgang A. Mozart. Charmant zweideutig, wie er ein "Veilchen" von einem Blusenknopf träumen lässt. Ziemlich eindeutig freilich, wie bei ihm ein Mädchen von einem "Zauberer" schwärmt - einem Herrn, der weiß Gott noch was für Hokuspokus mit ihr getrieben hätte, wäre nicht die Mutter des Weges gekommen. Franz Schubert wiederum fühlt sich - zu weitaus behutsameren Worten - in die Seelenregung einer "Jungen Nonne" ein, die ein inneres Brausen jüngst noch schwer zerzaust hat.

Löblich übrigens, dass Vermeulen auch die Sexyness des 20. Jahrhunderts zu entdecken versucht. Dabei greift sie nicht nur auf Weils schon etwas abgelutschte "Ballade von der sexuellen Hörigkeit" zurück, sondern durchstreift auch die schwülen, symbolschwangeren Lustgärten aus der Feder von Arnold Schönberg, Alban Berg und Claude Debussy.

Einsame Versenkung
Klangsinnlich, aber dezidiert allein bespielt Lukas Lauermann sein Album. Der 35-jährige Cellist und Tonsetzer hat sich einen Ruf als Grenzgänger erworben: Beheimatet beim Klassik-Label col legno, paktiert er auch mit alternativen Pop-Stimmen wie Soap & Skin und Mira Lu Kovacs. Lauermanns "I N" hält an diesem Kurs fest. Mal rufen Cello-Figurationen, zart elektronisch verwischt, Erinnerungen an J. S. Bach wach, mal starren Klavierakkorde in eine melancholische Stille, mal verbünden sich Streicher-Kantilenen zum bittersüßen Choral: Klanglandschaften, die eher die Versenkung suchen als das hektische Getriebe. Live und solo auf der Bühne am 15. Oktober im Wiener Konzerthaus.