Nikolai Rimski-Korsakow ist bekannt für ein Orchesterwerk und für eine Untat. Das Orchesterwerk ist die sinfonische Dichtung "Scheherazade", die Untat die Neufassung von Modest Mussorgskis "Boris Godunow" mit geglätteter Harmonik und Rhythmik und bunter Instrumentierung statt der gedeckten Farben des Originals. Rimski-Korsakows Version hat das Werk freilich rund 100 Jahre auf den Bühnen gehalten, ehe sich die Originalversion durchsetzte.

Rimski-Korsakows eigene Opern sind ein rein russisches Phänomen geblieben. Gerade einmal seine letzte, "Der goldene Hahn", wird hier und da auf westlichen Bühnen ausprobiert, meist, wenn ein Regisseur das satirische Märchen Alexander Puschkins in eine rasante Revue verwandeln will.
Profil/Hänssler hat nun eine dicke Box mit Rimski-Korsakows Opern auf 25 CDs herausgebracht. Beim Durchhören erschließt sich, wieso es diese Opern auf den Bühnen außerhalb Russlands so schwer haben: Die Gründe sind inhaltlicher wie musikalischer Natur. Die meisten Sujets basieren auf Märchen, in denen sich die oft exotischen Traditionen der Völkerschaften Russlands spiegeln. Das Problem ist nur, dass Rimski-Korsakow fast immer an der Oberfläche bleibt: Er delektiert sich an üppigen Exotizismen, die aber zu oft Talmi in Reinkultur sind.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
Das schlägt sich auch in der Musik nieder: Rimski-Korsakow hat die wahrscheinlich größte Palette an Orchesterfarben, ehe Maurice Ravel alle in den Schatten stellte. Aber dieser enorme Reichtum dient Rimski-Korsakow meist nur zu koloristischen Zwecken. Es ist bezeichnend, dass seine beste Oper, "Der goldene Hahn", von vornherein ein Märchen in Anführungszeichen ist und mit ihrem bizarren Inhalt hat das Genre selbst ironisiert.
Nicht, dass unter den vorangehenden Opern glänzende Stücke fehlen würden: "Der unsterbliche Kaschtschej" und "Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija" klingen über weite Strecken wie Modelle für den frühen Igor Strawinski, der ja Schüler Rimski-Korsakows war. In diesen Werken verdichtet sich das Talent des Komponisten zum Genie, wenngleich seine melodische Erfindung entweder schwach bleibt oder zu Banalitäten neigt, die freilich mit raffinierter Harmonik gemildert werden. Wählt Rimski-Korsakow indessen ein rein historisches Sujet ohne Exotik, etwa in "Die Zarenbraut", ist seine Musik wenig inspiriert und bleibt hinter den vergleichbaren Werken seiner Freunde Mussorgski und Alexander Borodin weit zurück.
So verdienstvoll die Box ist, so muss man den potenziellen Käufer auf die Mankos hinweisen: Es handelt sich um Einspielungen der Jahre 1927 bis 1963. Die technische Qualität sowjetischer Aufnahmen ist höchst unterschiedlich. Im Prinzip versuchten die Aufnahmeleiter, die Singstimmen hervorzuheben mit dem seltsamen Resultat, dass diese oft stumpf und eng wirken und bei hohen Frauenstimmen zum Klirren neigen, während reine Orchesterstellen ausgezeichnet klingen. Ein weiterer Nachteil ist, dass in der Box die (allerdings sehr schwache) Römer-Oper "Servilia" nur in vier Ausschnitten vorhanden ist.
Dennoch: Die überragenden Interpretationen, die weitestgehende Vollständigkeit der Sammlung und die vernünftige Preisgestaltung (bei etwa 50 Euro) machen die Box zu einem Muss für jeden, der nicht nur bunte Märchenopern kennenlernen möchte, sondern auch den Weg eines virtuosen Koloristen zum Türöffner für die Musik des 20. Jahrhunderts nachvollziehen will.