Der Tonträgermarkt ist verrückt geworden. Anders kann man es nicht sagen. Das Bruckner-Jubiläum 2024 (200. Geburtstag) veranlasst Einspielungen in einer absurden Menge. Bruckner ist der neue Schostakowitsch, nachdem Schostakowitsch der neue Mahler war. Derzeit glaubt jeder Musiker, auf irgendeine Weise Bruckner vorlegen zu müssen. Dirigenten tun’s gleich zyklisch, und wenn man, wie etwa Valery Gergiev, zu Bruckner nichts zu sagen hat, wird das durch hochpreisige Aufmachungen ausbalanciert, die Weltbewegendes suggerieren. Nachdem Gergiev an Bruckner nicht einmal virtuos, sondern nur jämmerlich gescheitert ist, beweisen Einspielungen von Andris Nelsons, François-Xavier Roth, Christian Thielemann und anderen im Grunde nur, dass man, will man sich mit Bruckner auseinandersetzen, nach wie vor um Eugen Jochum, Günther Wand, Michael Gielen und Stanislaw Skrowaczewski nicht herumkommt.

Bruckners Vierte Symphonie, die "Romantische", ist von jeher eine der populärsten. Zwei neue Einspielungen machen aus den gleichen Gründen glücklich und unglücklich zugleich. Die Aufnahmen von Rémy Ballot und Gerd Schaller stehen beide unter dem guten Stern enthusiastischer Interpreten und, wie der dennoch zu Recht legendäre Zyklus von Georg Tintner, unter dem weniger guten überforderter Orchester.

Ballot nahm die "Vierte" mit dem Altomonte Orchester St. Florian auf, einem Telefonorchester, gebildet aus Profis und Nachwuchsmusikern. Was dieser Klangkörper in den eruptiven Höhepunkten leistet, ist beachtlich. Nur gelingen den Streichern gerade in den leisen Passagen angesichts der celibidachesk langsamen Tempi nicht alle Legati gleich intensiv, und in die Holzbläser schleichen sich hie und da Trübungen ein. Dass Ballot die Fassung von 1888 wählt, in der Bruckner allzu viele Wünsche seiner Einflüsterer erfüllte, ist seltsam, man mag es respektieren als den Versuch, eine wenig gespielte Version vorzustellen. Insgesamt ergibt das eine von großer Einsicht getragene Aufnahme, deren interpretatorisches Wollen nicht überall umgesetzt ist.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
Nahezu ein Parallelfall ist der Gerd Schallers. Wie Ballot, so ist Schaller ein berufener Bruckner-Interpret. Anders als Ballot, wählt er keine Fassungen aus, sondern spielt sie alle ein. Die "Vierte" etwa legte er jetzt in der schwächelnden ersten Version (1874) vor, also in der Variante ohne das Jagd-Scherzo. Wie bei Ballot, so ist auch bei Schaller das Orchester das Manko: Die Philharmonie Festiva agiert mit pauschaler Sauberkeit bei Streichern und Holzbläsern. Das Blech setzt Lichter auf - aber es bleibt der Gesamteindruck, weit Besseres gehört zu haben. Und obwohl Schaller zügigere Tempi wählt als Ballot, hat man eher bei Ballot den Eindruck eines konsequenten Spannungsaufbaus.
In beiden Fällen handelt es sich um Dirigenten mit sehr persönlichen Zugängen, für die Bruckner ein in sich geschlossenes Universum darstellt und nur aus der gleichsam sprechenden Bedeutung der Musik, also gewissermaßen als Klangrede, entwickelt werden kann, die versucht, zwischen Transzendentem und Irdischem zu vermitteln. Bruckner-Enthusiasten kommen wohl um diese - trotz aller Einwände - bemerkenswerten Einspielungen nicht herum.