Seit 2020 hat die Wiener Staatsoper wieder einen Musikdirektor. Einen sehr präsenten: Der Schweizer Philippe Jordan steht etwa 40 Abende pro Saison im Graben, legt Wert auf Kontinuität und gibt ein paar Werke vorerst nicht in fremde Hände.
"Wiener Zeitung": Sie haben im Dezember "Don Giovanni" dirigiert, im März "Wozzeck", jetzt "Rosenkavalier" und "Tristan": Braucht es das als Musikdirektor, diese Bandbreite?
Philippe Jordan An einem Haus wie der Wiener Staatsoper: sicher. Zum Beispiel möchte ich die Arbeit an einem gemeinsamen Verständnis von Mozart am Anfang in meiner Hand haben und ein Stück wie den "Rosenkavalier" für einige Zeit selbst machen. Da gab es in den vergangenen Jahren sehr viel Abwechslung am Pult. Das hat sicher auch seinen Reiz. Aber ich möchte hier zunächst wieder eine Linie hineinbringen.

Sie verstehen sich als Kapellmeister,
dirigieren nicht nur Premieren. Was bedeutet das Repertoire für Sie?
Das ist heute etwas sehr Spezielles geworden, das es kaum noch wo gibt. Dieses Haus ist das letzte mit dieser unglaublichen Bandbreite. Solange es in Wien ein Publikum gibt, das immer wieder gerne die gleichen Stücke sieht, ist das auch absolut zu pflegen. Auch das Haus profitiert davon, Chor und Orchester sind musikalisch enorm flexibel, können in alle Richtungen mitgehen. Das gibt es so nirgendwo und bedeutet eine spezielle Qualität.
Wie geht es dem Mozart-Ensemble, das Sie mit dem Da-Ponte-Zyklus aufbauen?
Ein Mozart-Ensemble wie das
legendäre der Nachkriegszeit kann es in einer globalisierten Welt so nicht mehr geben und war auch damals zu einem nicht geringen Teil den Zeitumständen zu verdanken. Dazu existieren heute - im Gegensatz zu damals - so viele verschiedene Richtungen, wie man Mozart spielen und hören kann. Es gibt oft Produktionen mit großartigen Sängern, die einfach nicht zusammenpassen. Ich möchte mit einer Gruppe von Sängern eine einheitliche Art zu arbeiten etablieren, da muss man das Wort Stil gar nicht strapazieren, mir geht es um ein gemeinsames Verständnis.
Sie haben Wagner, dessen "Tristan" Sie gerade proben, als Kind entdeckt. Wie hat sich diese Beziehung verändert?
Das ist ein Kosmos, der nie aufhört, wo es jedes Mal noch eine neue Ebene zu entdecken gibt. Ich mache "Tristan" jetzt zum vierten Mal und entdecke immer wieder neue Tiefenschichten. Auch emotional ist das eine Klangwelt, die ständig wächst. Das ist einzigartig bei Wagner, dass einen am Pult Emotionen überkommen wie sonst nie. Da kann man sich selbst als Dirigent schwer verschließen.
Sie haben in Paris von der Leichtigkeit des französischen Wagner-Klangs geschwärmt. Ist Ihr Wagner hier anders?
Selbstverständlich. Anderes Haus - anderes Orchester. So wie mein Wagner in Bayreuth anders geklungen hat als der in Paris. Ich habe in Bayreuth viel aus der Erfahrung aus Paris einbringen können. Aber ich habe viel an Kraft und Wucht von den Musikern dort mitbekommen, wovon wieder die Pariser Aufführungen profitiert haben.
Fehlt Ihnen jetzt ein zweites Standbein?
Im Moment möchte ich mich voll auf die Staatsoper konzentrieren.
Wie unterscheidet sich Wien von Paris als Opernstadt?
Vor allem darin, dass Paris keine Opernstadt ist. Man identifiziert sich nicht so mit seinem Opernhaus und hat daher weniger klare Vorstellungen davon, was Oper sein soll. Die Franzosen sind sehr visuell, wenn es gut aussieht, sind sie schon einmal zufrieden. In Wien muss erst einmal die Musik klingen und dann sollte es möglichst lebendiges Theater sein.
"Der Chef ist immer nur so gut wie sein schlechtester Dirigent," haben Sie vor Amtsantritt gemeint. Wie sieht Ihre Bilanz nach eineinhalb Jahren aus?
Ich habe gesagt: das Haus - nicht der Chef! Aber ich bin zusehends glücklich mit unserer Dirigentenfamilie. Wir haben zunächst die Zahl der Gastdirigenten bewusst reduziert, damit da einmal für ein paar Jahre eher an einem Strang gezogen wird. Es sind ja immer noch 25 Dirigenten, es müssen aber nicht unbedingt 45 sein. Jetzt geht es einmal um Kontinuität, um Qualität statt Quantität.
Sie legen Wert auf orchestrale Transparenz. Der Wiener Klang ist berüchtigt für eine gewisse charmante Schlampigkeit. Wie geht sich das aus miteinander?
Über Ihre Definition des Wiener Klanges ließe sich doch diskutieren ... Aber grundsätzlich kommt der sogenannte Wiener Klang sogar besser zur Geltung durch eine gewisse Transparenz. Ich sehe das als Ergänzung und als Bereicherung für beide Seiten.
Wer prägt wen mehr: Philippe Jordan das Staatsopernorchester und damit die Wiener Philharmoniker oder umgekehrt?
Was für eine Frage! Das sollte doch im besten Fall ein ständiger Austausch sein, der sich dann richtig und bereichernd anfühlt - für beide Seite - und so was braucht Zeit.
Sie sind ein bekennender Sängerdirigent, Solisten haben klanglich stets Vorrang. Ist das Orchester da glücklich?
Das Wiener Orchester sicher, und das ist auch in seinem Interesse. Es kommt nur darauf an, wie man das macht. Dem Orchester zu sagen, es ist zu laut, das braucht kein Mensch. Was funktioniert, ist, einander zuhören. Das ist eine der großen Qualitäten dieses Orchesters, dass es mit allen Sinnen musiziert.
Zuhören ist also die wichtigste Eigenschaft eines Staatsopern-Musikers?
Absolut, das ist ihre Ehre, dieses Zuhören, diese Sensibilität. Doch es ist nötig, sich darauf immer wieder zu besinnen, sich dieses Auf-Einander-Hören regelmäßig zu erarbeiten.
Sie sind 2020 gestartet, mitten in der Pandemie. Was kam da zu kurz?
Im ersten Jahr haben wir zwar viele schöne Produktionen herausgebracht. Doch die wirkliche Arbeit ist miteinander eine Spielserie lang zu musizieren. Da passiert der Austausch, da lernt man einander erst richtig kennen. Das hat enorm gefehlt im ersten Jahr.
Die Zusammenarbeit zwischen Direktor und Musikdirektor ist nicht immer spannungsfrei. Wie funktioniert sie heute?
Das ist ein spannender Prozess, wir haben uns im Vorfeld viel Zeit genommen, uns oft getroffen und ausgetauscht. Das hilft in der täglichen Arbeit enorm. Wir haben aber auch klar festgelegt, wer wofür zuständig ist. Das steckt die Rahmenbedingungen sehr gut ab.
Wie kompromissbereit sind Sie in Sachen Regie, gibt es eine rote Linie?
Es gibt, wie gerade gesagt, eine klare Kompetenzverteilung, und für die Produktionen ist federführend der Direktor zuständig. Dies muss zunächst einmal eingehalten werden. Natürlich muss man miteinander können. Das merkt man schnell, ob da eine gemeinsame Begeisterung da ist. Die roten Linien sind klar: Ich brauche einen Regisseur, der uns beim Musikmachen nicht stört. Im Idealfall entsteht ein sehr enges Miteinander. Davon träumen wir jeden Tag - nur es passiert in einem Musikerleben sehr selten. Meist ist es immerhin ein gegenseitiges Achten und Respektieren.