Welch eine Musik! Die polnische Komponistin Grażyna Bacewicz (1909-1969) muss aufgeführt werden - nicht nur in Polen, sondern international, und, bitte, nicht weil sie eine komponierende Frau war. Das hat hier noch weniger als sonst eine Rolle zu spielen. Sie muss aufgeführt werden, weil ihre Musik zum Stärksten gehört, was das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.
Vorerst ist eine Pioniertat zu rühmen: Das ohnedies immer entdeckungsfreudige Label CPO bringt das gesamte symphonische Werk der Komponistin heraus. Gerade erschienen sind die Dritte und die Vierte Sinfonie, vom WDR Sinfonieorchester unter Łukasz Borowicz glänzend aufgeführt: Genau in den Details, das Ganze gerundet und mit Spannung erfüllt. Borowicz, der schon die Einspielung der Violinkonzerte der Bacewicz für Chandos am Pult geleitet hat, hält auch hier die Musik in spannungsreicher Bewegung.

Wenn diese Grażyna Bacewicz eine dermaßen bedeutende Musik geschrieben hat - wieso ist sie dann so relativ unbekannt?
In diesem Punkt greift natürlich die männliche Dominanz des Klassik-Geschäfts. Man traute bis tief ins 20. Jahrhundert Komponistinnen zu, nette Kammermusik zu verfertigen, nicht aber die großen, gleichsam kultur(mit)tragenden Werke, obwohl etwa mit der Französin Lili Boulanger, der Waliserin Grace Williams, der Schottin Thea Musgrave und der Australierin Peggy Glanville-Hicks Gegenbeispiele vorlagen.

Im Fall der Bacewicz kommt obendrein die Politik dazu: Die verordnete den sozialistischen Realismus. Musikalisch bedeutet das: volkstümliche Melodien in weitestgehend simpler Harmonisierung und aufgeblasener Instrumentierung. Das lag der Bacewicz nun überhaupt nicht.
Ihre Musik hat wohl zu tun mit polnischer Volksmusik, aber so, wie die Musik Béla Bartóks von ungarischer Volksmusik geprägt ist. Tatsächlich erinnern Bazewicz Werke der späten 1940er Jahre frappant an die folkloristischen Werke Bartóks.
Die Bacewicz hat ein umfangreiches uvre geschaffen, in dem sie, die als Geigenvirtuosin und -pädagogin hervorgetreten ist, naturgemäß ihr Instrument besonders bedacht hat, etwa mit sieben Violinkonzerten, viel Kammermusik und einem bemerkenswerten Corpus Orchestermusik sowie Film- und Hörspielmusiken. Auffallend wenig Vokalmusik ist darunter, für die Bühne lediglich drei Ballette, ihre einzige Oper hat sie für das Radio komponiert.
Die beiden nun vorliegenden Sinfonien aus den Jahren 1952 und 1953 sind beeinflusst von Bartók, allerdings stärker von seinen expressionistischen Werken wie "Der wunderbare Mandarin" oder "Der holzgeschnitzte Prinz". Die Musik glüht und lodert, die weitbogigen Melodien werden von einer dissonanten, aber ungeheuer farbintensiven Harmonik gestützt. Zum stilistischen Fingerabdruck gehört, dass Blöcke solcher spät- oder neoexpressionistischen Eruptionen neben klassizistischem Kontrastmaterial stehen, wo alles klar ist, sachlich bis knorrig - bis die Rhythmen den neuen Steigerungsansatz herbeitanzen.
Beide Symphonien sind verhältnismäßig kurz, die Dritte ist für den unvorbereiteten Hörer leichter zu verfolgen als die Vierte, die zum Spätstil der Bacewicz überleitet, in dem die Komponistin zunehmend Verfahren der westlichen Avantgarde übernimmt und zu einer Wegbereiterin der Neuen Musik Polens wird.