Die wichtigste CD-Veröffentlichung seit sehr langer Zeit weist ein gravierendes Manko auf. Doch der Reihe nach: Das Label "audite" schließt mit der Gesamtaufnahme von Paul Dessaus "Lanzelot" eine empfindliche Repertoire-Lücke. Dessau (1894-1979) war der neben Hanns Eisler prominenteste Komponist der DDR, er war Bertolt Brechts Bühnenmusikkomponist, nachdem dieser sich mit Kurt Weill zerkracht hatte, komponierte Chorwerke wie "Hagadah shel Pessach", "Deutsches Miserere" und "Requiem für Lumumba", unter seinen Orchesterwerken sind die Bach-Variationen hervorzuheben. Und er komponierte die wichtigsten Opern der DDR: "Die Verurteilung des Lukullus", "Puntila" (beide nach Brecht), "Einstein" (nach Karl Mickl) und "Leonce und Lena" (Thomas Körner nach Georg Büchner). Sie liegen in Aufnahmen mit Spitzenkräften der DDR vor. Nur "Lanzelot", komponiert auf ein Libretto von Heiner Müller nach Jewgeni Schwarz und Hans Christian Andersen fehlte.

Paul Dessau (2. v. r.) bei dem Solidaritätskonzert zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 1974. - © Deutsches Bundesarchiv / Katscherowski (verehel. Stark) / CC-BY-SA 3.0
Paul Dessau (2. v. r.) bei dem Solidaritätskonzert zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 1974. - © Deutsches Bundesarchiv / Katscherowski (verehel. Stark) / CC-BY-SA 3.0

Dessau komponierte die 1969 uraufgeführte Oper zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR. Offenbar war sie als gewissermaßen Nationaloper der DDR geplant und wurde dementsprechend an der Staatsoper Berlin (Unter den Linden) unter Leitung von Herbert Kegel prominent uraufgeführt. Nur hatten die Kulturverantwortlichen Dessau freie Hand in der Wahl der Mittel gegeben - und er griff ins Volle: Das Orchester mit 31 Bläsern, einer großen Streicherbesetzung und einem Schlagzeugapparat, gegen den sich Carl Orffs "Antigonae" zurückhaltend ausnimmt, ist nahezu monströs.

Paul Dessau
Paul Dessau

Dazu kommt die Komplexität des Werks: Dessau schreibt zum Libretto, einer wuchernden und ironiegeladenen Märchenparabel über Herrschen und Beherrscht-Sein, eine kommentierende Musik. Das heißt, er setzt Stil und Klang zeichenhaft ein. Kitschiger Filmmusiktonfall und knirschende Zwölftönigkeiten begegnen einander, Unterhaltungsmusik wird von aleatorischen Verfahren befragt, und immer wieder geben Klassiker-Zitate Hör-Hinweise, was wie und vielleicht ganz anders gemeint ist. Es überrascht, wie nahe diese "musica impura" den politischen Werken Hans Werner Henzes steht, dessen "We Come To The River" als Nachkomme dieses genialen "Lanzelot" anmutet.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.

Mag freilich sein, dass den DDR-Behörden die inhärente Machtkritik nicht ganz geheuer war. Jedenfalls machten sie keine Schallplattenaufnahme. Nachgespielt wurde der "Lanzelot" nur in München und Dresden.

Die nun auf CD vorliegende Aufnahme ist ein Mitschnitt der erst vierten Inszenierung des Werks. Sie hatte 2019 am Deutschen Nationaltheater Weimar unter der Regie von Peter Konwitschny und der musikalischen Leitung von Dominik Beykirch Premiere. Die Aufnahme ist eine grandiose Leistung aller Beteiligten, und dass man merkt, wie sehr dieser "Lanzelot" das Haus an seine Grenzen führt, gehört zum Reiz der Einspielung. Man hätte sie freilich gerne auch optisch erlebt, also auf DVD. Doch das wirkliche Manko ist das Fehlen eines Textbuchs. Ein solches gibt es nur online. Wär‘s eine "Zauberflöte", man würde es verschmerzen. Für alle jedoch, die sich in Zusammenhang mit diesem Meilenstein des modernen Musiktheaters auch mit Heiner Müllers forderndem Libretto auseinandersetzen wollen, ist das eine unerfreuliche Nötigung zur Bildschirm-Lektüre. Dessen ungeachtet: eine absolut unverzichtbare Aufnahme!