Man hätte glatt übersehen können, dass Mikhail Pletnev - einstiger Superstar der Klassikszene - ein Konzert im Musikverein gab. Unbekannter Fremdveranstalter, kein Plakat, kein Programm. Fast als schäme man sich des Nachholklavierabends. Dabei ist der schon immer regimekritische, inzwischen 65-Jährige zumindest politisch unbedenklich. Musikalisch, wie sich herausstellt, auch. Ja, viel mehr noch.
Der Chopin der zweiten Hälfte war subtil, sanft-muskulös, nichts beweisen müssend und wollend, betörend, bekam aber auch seine Widerborstigkeit herausgekehrt (cis-Moll-Polonaise) oder beinhaltete nebelumwobene Momente völligen Innehaltens (f-Moll-Fantaisie), die der Musik experimentelle Gänsehautqualität gaben. Auch im ersten der drei Brahms-Intermezzi gab es eine Stelle, wo sich die Musik in Noten aufzulösen schien. "So spielt man keinen Brahms", mag einem der innere Spießer zurufen. Aber die Ohren sind zu hingerissen, im Bann von Pletnevs Kontrolle, seinem Anschlag.
Regungslos lässt Pletnev die Musik für sich sprechen, wenn er, kaum an den Flügel geschlurft, Bachs dritte Englische Suite heraufbeschwört. Über einem Pedalsumpf werden die wichtigen Noten herausgestanzt, hier mit mechanischer Starre, dann wieder elastisch und mit einer Sanftheit, die in die Magengrube geht. Die hingehauchte zweite Gavotte war zum Atemanhalten zart. Zu Ende der ersten Hälfte noch eine Sonate des ukrainischen Zeitgenossen Alexey Shor: ein eigener Klang, wild-butterweiche Läufe, zu modern für den frühen Skrjabin, zu schlicht für späten. Eher zeitlos als 2019.