Eine singuläre Gestalt.
Letzter Inbegriff eines großen Komponisten. Schöpfer von Opern, Orchesterwerken, Kammermusik. Stilprägend. Die Musikgeschichte mitformend. Ein sicherer Anker im wildbewegten Meer des stilistischen Pluralismus. Ein Stiller auch, ein Nachdenklicher, ein Grübler. Lieber in den Bergen auf Wanderung als auf Empfängen. Lieber befasst mit Philosophie als mit Tagesaktualitäten.
Friedrich Cerha also.
Geboren am 17. Februar 1926 in Wien. Violinunterricht ab dem siebenten Lebensjahr. 1943 wird der 17-Jährige zum Dienst als Luftwaffenhelfer verpflichtet, Einsatzort Achau. Im November 1944 wird er in eine Offiziersschule in das besetzte Dänemark versetzt. Er nimmt ein Konvolut blanko unterschriebener Marschbefehle an sich und desertiert. Die Papiere nützt er, um sich unentdeckt auf deutschem Gebiet aufzuhalten. In Stettin wird er aufgegriffen und einer eilig aufgestellten Einheit zugeteilt. Er desertiert zum zweiten Mal. Wartet hungernd und frierend im Thüringer Wald, bis die Front über ihn hinweggerollt ist. Schlägt sich bis ins westliche Österreich durch. Lebt mehrere Monate in den Bergen, um der Gefangenschaft durch die Alliierten zu entgehen.
Nach Kriegsende folgt Cerha endlich seiner Berufung: Studium an der Wiener Musikakademie (Violine, Komposition, Musikerziehung) und an der Universität Wien (Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie). 1950 dissertiert er über "Der Turandotstoff in der deutschen Literatur".
Das österreichische Musikleben steckt in der nationalsozialistischen Ästhetik. Der einflussreiche Joseph Marx, als Komponist ein Spätromantiker, als Kritiker ein Gegner alles Neuen, gibt den Ton an. Avancierte Neue Musik wird kaum gespielt.
Um Abhilfe zu schaffen, gründen Cerha und Kurt Schwertsik im Jahr 1958 das Ensemble die reihe. Auf dem Programm steht vor allem Musik progressiver zeitgenössischer Komponisten aus Österreich - und die des 1945 von einem US-amerikanischen Soldaten aufgrund eines Missverständnisses erschossenen Anton von Webern.
Das Neue vermitteln
Das Ensemble die reihe ist das Modell für alle ähnlichen späteren Gruppierungen wie das Ensemble Intercontemporain oder das Ensemble modern. Cerha dirigiert die Formation und lernt dabei das Handwerkliche. Er will Musik vermitteln, nicht zuletzt als Musiklehrer, der u. a. den ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer zu seinen Schülern zählt. In den Konzerten unterstützt ihn seine Frau Gertraud mit Einführungsvorträgen.
1961 vollendet Cerha seinen siebenteiligen Zyklus "Spiegel" für großes Orchester. Das rund eineinhalbstündige Werk ist ein Meilenstein der neuen Musik. Cerha verzichtet auf Thema, Melodie und Rhythmus. Der Klang allein ersteht wie eine Skulptur. Wenn der Betrachter die Partituren aus einiger Entfernung sieht, erinnern sie ihn an abstrakte Grafiken oder Aufzeichnungen von Kurven, wie man sie aus der Physik kennt.
Doch anders als die Komponisten der Spektralen Musik, die das einmal gefundene Rezept ihrer Klangflächen endlos repetieren, erkennt Cerha das Einzigartige der "Spiegel". Jede Wiederholung wäre Selbstkopie. Obwohl Cerha im folgenden Musiktheaterwerk "Netzwerk" (1962-1967), einem surrealen Welt- und Überwältigungstheater, in dem Sprache durch Laute ersetzt und Bild und Geste so wichtig sind wie die Musik, den Klang schraffiert und die Singstimmen sich in mitvollziehbaren Linien ausdrücken lässt, stellt sich die Frage: Wie weiter?
Der Kampf um "Lulu"
Der Ausweg wird bei einem anderen Komponisten gefunden: Seit 1962 befasst sich Cerha im Auftrag des Verlags Universal Edition mit der Fertigstellung des Dritten Aktes der "Lulu". Alban Berg hat die Oper als zweiaktig gut aufführbares Fragment hinterlassen. Cerha muss heimlich daran arbeiten, denn Alban Bergs Witwe hat die Fertigstellung untersagt.
Es kommt zum Eklat: Gottfried von Einem, acht Jahre älter als Cerha und die überragende Gestalt des österreichischen Musiklebens, opponiert als Präsident der Alban Berg Stiftung in deren Namen und im Namen der Witwe Bergs gegen die Fertigstellung. Im privaten Gespräch ereifert er sich über Cerhas "Leichenfledderei". Cerha und der Verlag behaupten, es handle sich im Wesentlichen nur um eine Instrumentierung der von Berg im Particell fertig komponierten Musik. Gegner der Fertigstellung wollen das nicht so recht glauben. Über allem steht die Frage: Hat der Verlag einen Rechtsbruch begangen? Anwälte werden eingeschaltet.
Der Konflikt eskaliert - und kann nach Helene Bergs Tod 1976 letzten Endes doch beigelegt werden. Die nun fertiggestellte "Lulu" wird 1979 in Paris mit Pierre Boulez als Dirigent und inszeniert von Patrice Chéreau uraufgeführt. Ein wenig Skepsis ist der Kritik immer noch anzumerken, doch der Verlag setzt die dreiaktige Version in Cerhas Fassung durch - und allmählich folgt ihm die Bühnenpraxis.
Für Cerha wiederum ist die Arbeit an "Lulu" eine Frischzellenkur. Durch Berg erkennt er den Weg ins Freie. In Bertolt Brechts "Baal" findet er das männliche Äquivalent zur "Lulu". Die Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 1981, danach an die Wiener Staatsoper übernommen, ist ein Sensationserfolg. Mit einem Mal schreibt Cerha kantable Linien. Das luxuriöse Klanggewand des Orchesters überdeckt alle Dissonanzen der reihentechnisch organisierten Musik, die sich dem Drama anschmiegt und es zugleich überhöht, wie es nur große Opernmusik erreicht.
Ausübung von Macht
Die Ausübung von Macht auf einen anderen Menschen - das ist Cerhas Thema auch in der nächsten Oper, "Der Rattenfänger" nach Carl Zuckmayer (1987 in Graz uraufgeführt) und in "Der Riese vom Steinfeld" (Libretto von Peter Turrini, 2002 in der Wiener Staatsoper uraufgeführt). Zuletzt noch handelt er sein Thema als Komödie ab: "Onkel Präsident" mit einem Libretto von Peter Wolf nach Franz Molnárs Komödie "Eins, zwei, drei" kommt 2013 in München heraus.
Die Breitenwirkung bleibt den Opern nach dem "Baal" versagt - doch das ist ein Resultat eines irren Opernbetriebs, der Opern lieber uraufführt als nachspielt und unter "modernem Musiktheater" eher klassische Repertoireopern in Regietheaterinszenierungen versteht, als durch das Nachspielen bühnentauglicher Werke ein zeitgenössisches Repertoire zu bilden.
Cerha im Konzertsaal: Orchestermusik, darunter Konzerte für Violine, Violoncello, ein Doppelkonzert für Violine und Violoncello, "Hymnus", das "Tagebuch", drei "Langegger Nachtmusiken", vier bedeutende Streichquartette: intensive melodische Linien eingebettet in perfekt ausgehörte Klänge, eine Expressivität voller Mitleidsgesten und Herbstfarben, eine Musik, in der das Menschliche die Natur spiegelt. Und, ja, auch Humor in den Seitenblicken auf das Wienerlied in den "Keintaten" nach Mundartgedichten Ernst Keins.
Da ist diese ganze Größe des künstlerischen Menschen Friedrich Cerha, der im Garten seines Hietzinger Jugendstilhaus ein Glashaus errichtet hat, in dem er seine Kakteen hegt, der von seinem hochgelegenen Sommersitz weit über die Wachau blickt, der mit eigenen Händen eine kleine Kapelle errichtet hat, einen magischen Ort der Stille und der Meditation, in dem archäologische Fundstücke auf die Überzeitlichkeit, auf die Ewigkeit verweisen. Als sein heimliches Hauptwerk hat Cerha den Bau einmal bezeichnet, auch, weil ihm, dem Künstler, die Arbeit mit den Händen schwergefallen ist. Doch wie er selbst sagte: "Die Leichtigkeit des Lebens war für mich nie ein Kriterium." Größe ist immer unangepasst.
Nun ist Friedrich Cerha kurz vor seinem 97. Geburtstag gestorben.