Schon im vorigen Herbst, als Einschnitte im Programm von Ö1 zur Debatte standen, warnte Peter Paul Kainrath vor einer Selbstverstümmelung des ORF - nun warnt er umso dringlicher: Seit der Vorwoche stellt ein Sparpaket des Senders die Existenz des ORF Radio-Symphonieorchesters (RSO) Wien in Frage. Im Interview spricht Kainrath, seit 2020 Intendant des Klangforum Wien, über das düstere Szenario eines Österreichs ohne florierende Kulturszene, über den schwindenden Respekt vor künstlerischen Werten - und über das Klangforum Wien, das im In- und Ausland nichtsdestotrotz hohen Zuspruch als Spezialensemble für zeitgenössische Musik genießt.
"Wiener Zeitung": Die Regierung zwingt den ORF zu harten Sparmaßnahmen, der Sender peilt dafür ein Gesamtvolumen von 300 Millionen Euro an. Unter den Plänen findet sich auch das Aus für das RSO Wien. Wie dramatisch wäre es, würde das Orchester tatsächlich ausradiert?
Peter Paul Kainrath: Natürlich wäre das schrecklich. Man könnte die Frage aber auch mit einer zynischen Negation beantworten: Wenn das RSO Wien verschwindet, wäre das nicht der Weltuntergang. Das ist die Sichtweise eines gewissen Manager-Typus - von Entscheidungsträgern, die bei Kürzungen stets in erster Linie an zeitgenössische Kultureinrichtungen denken.
Das RSO kostet angeblich nicht einmal 10 Millionen Euro pro Jahr - ein Bruchteil des Gesamtsparziels.
Auch aus diesem Grund verstehe ich nicht, warum gerade das RSO, eine unverwechselbare Exzellenzeinrichtung, bei den Sparplänen als Erstes genannt wird. In den großen, aufwendigen TV-Shows des ORF gäbe es unzählige Schrauben, an denen sich drehen ließe, um zu sparen. Stattdessen gleich an das RSO zu denken, zeugt von extremer Fantasielosigkeit.
Aber sprechen wir nicht von den Kosten, sondern vom Wert solcher kulturellen Institutionen. Ein Gedankenexperiment: Beamen wir uns fünf Jahre in die Zukunft und stellen uns eine österreichische Öffentlichkeit vor, in der alle möglichen Dinge fehlen, über deren Einsparung derzeit geredet wird. Ich fange an bei der "Wiener Zeitung", ich denke ebenso an das RSO und auch an gewisse Inhalte auf Ö1. Das wäre eine enorm verarmte Öffentlichkeit. Der ehemalige Status quo ließe sich selbst mit einer Verdoppelung der ursprünglich eingesparten Geldmittel nicht wiederherstellen. In welchem gesellschaftlichen Rahmen wollen wir leben? Das wird zu wenig thematisiert. Bei mir wird der Ärger immer größer. Jene, die für den Erhalt von Kulturinstitutionen zuständig sind, müssten Vorschläge für deren Bewahrung machen und nicht einfach sagen: Wir haben kein Geld und basta.
Die Sparpläne treffen tendenziell Einrichtungen ohne starke Breitenwirkung. Es wirkt, als würde hier der Weg des geringsten Widerstandes gegangen. So nach dem Motto: Wer nur ein paar Leser, Abos, Klicks hat, den kann man ohne größeres Geschrei abdrehen.
Genau das ist es. Es ist ein unausgesprochenes Quotendenken, unausgesprochen, weil man sich dafür höchstwahrscheinlich schämt. Quoten und Klicks sind aber nicht die richtigen Parameter, um diese Diskussion zu führen.
Es liegt nahe, dass dieses Quotendenken vor allem die wagemutigen, kreativen Zonen des Kulturlebens bedroht.
Man muss sich fragen: Wollen wir einen Kulturbegriff, der vor allem konsumierbare Produkte umfasst, oder wollen wir unter "Kultur" auch einen Bereich der Gesellschaft verstehen, in dem schöpferische Menschen Neues schaffen? Darüber sollte man nachdenken, anstatt unreflektiert dieses oder jenes auf den Opfertisch zu werfen. Jeder Tausender, jede Million, die man der Kultur entzieht, bedeutet eine geistige Verarmung für das gesellschaftliche Gefüge. Man muss sich in diesem Zusammenhang dann auch nicht wundern, wenn die Wählerinnen und Wähler ihre Entschlüsse auf Basis von verarmten Entscheidungsprozessen treffen.
Früher waren Institutionen sakrosankt, die das Prädikat "künstlerisch wertvoll" besaßen. Heute ist das offenbar keine Lebensversicherung mehr.
Ja. Nach dem Zweiten Weltkrieg war allen bewusst, was für katastrophale Folgen eine verrohte Gesellschaft hat. Es war klar, dass man eine kulturelle Aufbauarbeit leisten muss, und die fand dann auch statt. Über Jahrzehnte genoss die kulturelle, schöpferische Leistung in der Gesellschaft einen geradezu natürlichen Respekt. Dieser fehlt mittlerweile. Ein Meisterwerk von Friedrich Cerha, eine neue Oper von Beat Furrer - solche Hervorbringungen sind mit nichts zu vergleichen, sie entziehen sich jeglicher Instrumentalisierung und Quantifizierung. Heute aber wird alles eingeebnet, "heruntergebrochen" und mit Dingen verglichen, an denen es nicht zu messen ist.
Könnte man in diesem Licht auch Angst um den Fortbestand des Klangforums bekommen?
Heute muss man sich, das hat uns die Pandemie gelehrt, ja leider auch mit dem Unvorstellbaren befassen. Die vorstellbaren Zukunftsszenarien geben mir allerdings keinen Anlass zur Furcht. Erstens besitzt das Klangforum ein unverwechselbares Profil, zweitens haben wir im Konzerthaus auch nach Corona konstant mehr als 500 Abonnenten, wir besitzen zudem solide Finanzierungssäulen durch den Bund und die Stadt Wien und sind international als Botschafter eines zeitgenössischen, kreativ ausgerichteten Österreichs unterwegs.
Derzeit absolviert das Klangforum einige Reisen, wie man liest.
Ja, wir sind nach einem Gastspiel in Cambridge im Februar gerade in Helsinki. Am Mittwoch haben wir hier das größte zeitgenössische Musikfestival Finnlands eröffnet; am Samstag dürfen wir ein Festkonzert zum 50-Jahr-Jubiläum der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung in Berlin geben. Apropos Reisen: Wir werden nächstes Jahr wieder in Südkorea auftreten, nachdem wir im vorigen Sommer dort und in Tokio Auftritte hatten. Wir stellen in diesem Juni außerdem gemeinsam mit dem Wiener Konzerthaus ein Projekt vor, mit dem wir vielleicht auch ins Ausland gehen: Wir beleuchten die Musik von zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten aus dem postsowjetischen Raum, die künstlerisch kompromisslose Positionen aus Estland, Armenien, Kasachstan, Georgien, Lettland, Russland und der Ukraine repräsentieren - ein Raum, der aus einer künstlerischen Sicht Gefahr läuft, in eine geopolitische Geiselhaft genommen zu werden.
Aufgrund des Kriegs wird mancherorts nicht einmal "Boris Godunow" gespielt - obwohl Mussorgskis Oper nichts für Wladimir Putins Invasion kann.
Ich verstehe die Ukrainer, dass sie unter dem aktuellen Bombenhagel eine derartige Sicht entwickeln. Aber wir können nicht in derselben Art und Weise reagieren. Unsere Verantwortung im geschützten Westen besteht darin, einen Raum zu ermöglichen, in dem man nach dem Ende dieses schrecklichen Krieges wieder den Dialog beginnen kann.