"Jetzt ist es fünf Minuten nach. Jedes Mal dasselbe!", seufzt eine Stimme aus der Nachbarreihe. Contenance, bitte: Wenn ein Klavier-Großmeister wie Jewgeni Kissin den Musikverein beehrt, sollte man ihm zumindest die Kleinigkeit von zehn Verspätungsminuten gönnen. Schon wenige Minuten später begann Kissin, seinem Ruf als spielfreudiger Virtuose ein weiteres Mal gerecht zu werden, und beschallte den Goldenen Saal bis kurz vor 22 Uhr mit einer Notenfülle, als gäbe es kein Morgen.

Der Anfang ist untypisch gewählt: Ausgerechnet Johann Sebastian Bach aus den Händen des russischen Klavierromantikers? Kissin versucht, ihn sich passend zu machen: Sein Bach hat nichts von silberdünnem Originalklang, die Schallwellen drängen stattdessen mächtig und wuchtig aus dem Konzertflügel - als wären Teile dieser Chromatischen Fantasie und Fuge in d-Moll BWV 903 von Rachmaninow geschrieben worden. Mozarts D-Dur-Sonate KV 311 - sie steht Kissin weitaus besser - tönt dann so fröhlich und quirlig, als wäre sie in einem Spielzeugladen komponiert worden - ein heiterer Gegenpol zu dem, was noch folgte.

Düstere Klangmeere

Imposant, wie der Russe Chopins Polonaise in fis-Moll op.14 dem Flügel entstößt: In Kissins Lesart nistet eine düstere Dramatik in diesem Stück, und dieses drängende Ungemach lässt die Musik wie Schmerzensschreie brüllen oder - noch wirkungsvoller - nach einem Crescendo jählings verstummen. Der Eindruck, Kissin lege das Stück bewusst rabenschwarz an, bekräftigt sich durch einen O-Ton des Pianisten: Diese Polonaise handle "eindeutig von der Tragödie des polnischen Volkes, das zu Chopins Zeiten Opfer des russischen Imperialismus wurde", sagte Kissin, ein scharfer Gegner von Putins Angriffskrieg in der Ukraine, jüngst der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Das hindert Kissin allerdings nicht, die zweite Konzerthälfte ausschließlich mit russischer Musik von Sergei Rachmaninow zu bestreiten: Klaviermusik von haarsträubender Komplexität, für Kissin aber augenscheinlich eine Komfortzone. Wie mächtig die Akkordkaskaden auch rauschen, wie schnell die Läufe perlen, wie kolossale die Klanggemälde anwachsen: Kissin lässt kein Anzeichen der Überforderung erkennen. Er scheint vielmehr in dieser Musik aufzugehen, die zwar hie und da Brillanz über alles stellt, in ihren Klangmeeren aber meist auch melodische Substanz und wohlige Dramatik befördert. Nach einer Auswahl an Préludes und Etüden an diesem Abend noch drei Zugaben (darunter Rachmaninows beliebtes Prélude in cis-Moll, besonders traumsanft begonnen und dann zu Dampfhammer-harten Akkorden gesteigert) und letztendlich Standing Ovations.