Der Mann, der alles kann, ist nun der Mann, der alles konnte, denn Ryuichi Sakamoto ist tot, gestorben wohl schon Ende März an seiner 2014 diagnostizierten Krebserkrankung; moderne Medizin schenkte ihm noch neun Jahre, in welchen er sich natürlich mehr dem Erhalt seines Lebens widmete, als seine geniale Arbeit als Komponist vollinhaltlich, mit gleicher Kraft, fortzusetzen, fortsetzen zu können.

Ryuichi wer? So geht es vielen hier, in den geografisch als Westen festgemachten Breitengraden. Sakamoto ist in der Welt der Populärkultur, in der er ebenfalls eine wesentliche Rolle spielte, nur in Japan jene Art weltliche Gottheit, die großer Pop für begrenzte Zeiträume immer evoziert. Dabei weiß der Autor gar nicht, wo er beim Oeuvre von Ryuichi Sakamoto beginnen soll, so vielfältig ist es. Und klar auch: Der hier weithin Unbekannte hat Musik komponiert, die viele, ohne es zu wissen, aus großen Hollywood-Produktionen kennen. Große Filmmusik jedoch findet kaum bis gar nicht Niederschlag in den wichtigen deutschsprachigen Feuilletons und wird meistens von Filmkritikern aufgerufen, die sich hier zu Recht als mit zuständig betrachten.

Sakamotos Kompositionen zu Bernardo Bertoluccis Filmen "The Last Emperor" ("Der letzte Kaiser") oder "The Sheltering Sky" ("Himmel über der Wüste") sind so überwältigend als Begleitung, dass nur selbstgewisse Regisseure - ähnlich wie bei Ennio Morricone und Angelo Badalamenti - es wagen, derart große Töne spucken zu lassen, die das Werk von Drehbuch, Schauspielern und Regie auch und nicht gering konkurrieren, wo sie nur Begleitung sein sollen. Aber es ist in letzter und eigentlicher Aufführung das Werk des Regisseurs, das Große seiner Produktion zusammenzuführen und zu verheiraten. Und diesem Großen hat sich Sakamoto immer ergeben - anders als Morricone, der auch zu schwachen Filmen unsinnig Bombastisches komponierte.

Zwei Popstars, zwei Tabu-Themen

Seine bekannteste und wohl auch wichtigste Filmmusik schrieb Sakamoto für und zu "Merry Christmas Mr. Lawrence", einem für das Weltkino gedachten und dort auch immens erfolgreichen Spielfilm aus 1983 von Regisseur Nagisa Oshima, der das Wagnis einging, nicht nur zwei Popstars in den Hauptrollen zu besetzen, den Auch-Schauspieler David Bowie und den Schauspiel-Neuling Ryuichi Sakamoto, sondern in dem Film auch zwei absolute Tabu-Themen zu thematisieren: die japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg (und so auch in der grausamen Expansions-Periode davor) und die im Japan dieser Tage immer noch als kriminell gezeichnete männliche Homosexualität. "Merry Christmas Mr. Lawrence" war jener Film, mit dem auch kulturell das japanische Jahrzehnt begann, das Japan der Welt öffnete. Und anders als die epischen Werke des alten, in einer Blase von Filmnerds ehrfürchtig betrachteten Regisseurs Akiro Kurosawa, haben Oshima und Sakamoto mit ihrem Film, mit Sakamotos Hauptrolle und mit Sakamotos Filmmusik, erstmals in der Geschichte Japans das sogenannte Reich der Morgenröte kulturell mit dem Westen verschweißt, ohne dass dabei für Japan ein kultureller Gesichtsverlust entstand.

Japan war durch ihn hip geworden

"Merry Christmas Mr. Lawrence" und der im japanischen Kino davor undenkbare Filmkuss von zwei Männern (in der Szene sehr einseitig, vom Drehbuch verlangt, nur von Bowie praktiziert) war der Auslöser jener Umorientierung japanischer Kultur, der japanische Weltkulturkarrieren, wie etwa jene des Autors Haruki Murakami, erst ernsthaft möglich machten. Und amerikanische Regisseure wie Paul Schrader ("Mishima", 1985) oder Steven Spielberg ("Das Reich der Sonne", 1987) konnten in den USA Drehbücher und Produktionen durchsetzen, weil Japan hip geworden war und nicht das seltsame Land geblieben, dem man kulturell immer noch reserviert oder mit grotesker Ehrfurcht begegnete. Es war diese Periode, und auch das Zutun Sakamotos, die den pazifischen Part des Zweiten Weltkriegs beendeten.

In "Merry Christmas Mr. Lawrence" spielt David Bowie eine Hauptrolle, die aber im Werk nur einer Nebenrolle gleichkommt. Doch es war dieser Film, an dessen Set sich zwei fast gleichaltrige Brüder im Geiste erkannten - Bowie und Sakamoto wurden enge Gespiele und Teilnehmer der damals in der Popmusik als ethische Notwendigkeit aufgerufenen One-World-Music, die auch für Welthits wie etwa "Seven Seconds" von Neneh Cherry und Youssou N’Dour verantwortlich zeichnete.

Ryuichi Sakamoto hatte zu Beginn der Dreharbeiten zu "Merry Christmals Mr. Lawrence" schon eine beachtliche musikalische Karriere hinter sich, die aber so gut wie nichts mit seinen nun folgenden Arbeiten als Filmkomponist und Vertreter der New-Classics, moderner klassischer Komponisten, zu tun hatte, denn Sakamoto war in Japan das, was David Bowie in der Welt war: ein ultracooler Formenwandler, der sich stets neu erfand und sich stets neue popkulturelle Berufe, wie eben auch jenen des Filmschauspielers, oktroyierte. Und das alles ging er mit jener absoluten Ernsthaftigkeit an, die nur jene aufrufen, die von ihrem Talent selbstgewiss wissen.

Sakamotos damals in Japan bekannteste Kreation war sein Yellow Magic Orchester, das schräge, tanzbare Hits wie am Fließband produzierte, eine Musik, die er mit Anleihen aus der New-Wave des Pop, die Nachfolge von Punk, und Anleihen der deutschen 70er-Kultband Kraftwerk komponierte. Im Nachhinein gesehen, sah Sakamoto sein Popstarleben als nicht zu gering schätzende Petitesse ein, die nichts mehr und nichts weniger war als ein großer Spaß, den er für sich und Millionen japanischer Gleichaltriger quasi aus dem Ärmel schüttelte. Und er sah es als zweifelhaft an, dass ihm japanische Popchronisten bescheinigten, sein Yellow Magic Orchester wäre die erste echte Popband Japans gewesen, die man in die Welt auf Tournee schicken konnte - aber genau das war sie.

Zurück in die Welt der klassischen Musik

Bowie, der lebenslange Freund und Zwilling, brachte Sakamoto auch mit seinem Buddy Iggy Pop zur Aufnahme von ein paar mehr oder minder geglückten Kompositionen zusammen, doch Sakamoto, 40 geworden, zog sich nach und nach aus der Welt des Pop zurück, um dorthin zurückzukehren, wo er herkam: der Welt der klassischen Musik und Komposition, die er studiert hatte. Es entstanden Alben, die alle keine großen Hits mehr wurden und wenn sie live aufgenommen wurden, sehr oft nur schlicht "Playing the Piano" hießen. Aber all diesen späteren und späten Kompositionen ist eines immer zu eigen: die schöne Schlichtheit, der Drang zur Melodie und das als asiatisch verschlagwortete Minimalistische. Wenn man so will, dann hat Sakamoto den Weg des Roxy-Music-Bandmitglieds Brian Eno eingeschlagen, den man heute auch zu den Neu-Klassikern rechnet.

Doch ist das falsch, denn sowohl Enos als auch Sakamotos Kompositionen zeichnet etwas gewiss Singuläres aus, das alle Schubladen verbietet. Wieder zwei Zwillinge im Geiste.

Ryuichi Sakamoto starb in ähnlichem Alter wie David Bowie. Und an der gleichen Krankheit. Das Schicksal, das es nicht gibt, verbindet die zwei auch im Tode.