Absteigende Basslinie, von Schlagzeugen und Klavieren gestützt, darüber Akkordsäulen, strahlend und zugleich schicksalsschwanger dräuend: "O Fortuna". Es ist der, neben dem von Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie, bekannteste Anfang eines Werks der klassischen Musik, längst gelöst vom Kontext eingesetzt in Filmen, in Werbespots, verjazzt, verpoppt und verrockt. Vor 75 Jahren begann der Siegeszug der "Carmina Burana" von Carl Orff, des letzten Breitenerfolgs der klassischen Musik. Doch es ist ein Breitenerfolg, der sich erst allmählich einstellt. Zu Beginn sieht es nämlich nicht danach aus - ganz im Gegenteil.
1937 ist Orff immerhin 42 Jahre alt und nahezu unbekannt. Der am 10. Juli 1895 in München geborene Komponist hat einen klingenden Namen allenfalls im Bereich der Schulmusik: Die Stücke seines "Schulwerks" für Kinder und Jugendliche gehen einen neuen Weg: Die elementare Rhythmik trägt die an Volksliedern geschulten Melodien, an die Stelle der variierenden Verarbeitung von Themen tritt Repetition, an die großformaler Abläufe die Strophenform. Die Instrumentarien sind geprägt von handgespielten Instrumenten: Musik wird zu Bewegung, Bewegung zu Musik.
Orff, in dieser Zeit permanent in finanziellen Nöten, hofft, dass die Nationalsozialisten das "Schulwerk" für die Hitlerjugend und den Bund Deutscher Mädel ankaufen, doch beide zögern. Einerseits geht diese Vereinfachung schon in die richtige Richtung, man kann sich vorstellen, zum "Schulwerk" die Keulen zu schwingen; andererseits: Sind diese Rhythmen wirklich "deutsch" oder nicht doch eher russisch, nämlich abgeleitet von den rhythmischen Experimenten Igor Strawinskis? Und war Orff nicht jüdischen Musikern und der SPD näher gestanden, als tolerierbar war?
Man ringt sich durch - Orff bekommt den Auftrag, für die Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin ein Werk zu schreiben. Doch der Komponist, der sich mit dem Nationalsozialismus nolens volens arrangiert, ihn aber verachtet, ist kratzbürstiger als angenommen: Er will den Auftrag vom Olympischen Komitee bekommen, nicht von der NSDAP. Man fädelt es ein. So wird der "Olympische Reigen" am 1. August 1936 uraufgeführt. Was niemand ahnt: Es ist kein Original-Werk. Orff hat seine Mitarbeiterin Gunild Keetmann Stücke aus dem "Schulwerk" adaptieren lassen. Er hat Wichtigeres zu tun, als für die Nationalsozialisten zu komponieren. Denn er arbeitet längst an "Carmina Burana".
Immerhin hat er jetzt einen Namen, die Uraufführung der "Carmina Burana" kann an prominenter Stätte über die Bühne gehen. Den Text entnimmt Orff der mittelalterlichen Sammlung "Carmina Burana", Gedichten in lateinischer, mittelhochdeutscher und altfranzösischer Sprache, oft in Sprachmischungen, teils erotisch-freche Vaganten-, teils von höfischen Idealen beeinflusste Humanistendichtung. Der Handlungsfaden, Frühlingserwachen und Liebeswerben bis hin zur Hochzeit, wird dem Zuschauer mehr suggeriert als er vor ihm ausgerollt wird. Bei der Uraufführung am 8. Juni 1937 in der Frankfurter Oper geht Hermann Reutters bauernpralles Breughel-Ballett "Die Kirmes von Delft" den "Carmina Burana" voran.
Der Erfolg für Orff ist eklatant, und Orff selbst erkennt das Gewicht seines Werks: Enthusiasmiert von der Aufführung schreibt er an seinen Verleger: "Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit den Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke!"
Orff taktiert
Kann es sein, dass bei diesem plötzlichen Zurückziehen der vorangegangenen Werke auch Taktik dabei war - und zwar keineswegs rein künstlerische Taktik?
Orff hatte als Jugendlicher im Fahrwasser von Claude Debussy und Richard Strauss zu komponieren begonnen. Das Studium Alter Musik führt ihn dann zu einem immer lapidarer werdenden Stil, der in einigen Kantaten für zumeist von Klavieren und Schlagzeugen begleiteten Chor voll ausgeprägt ist. "Carmina Burana" übertreffen diese Kantaten an Bedeutung, sind jedoch kein stilistisches Neuland, wie Orffs rigorose Entscheidung vermuten lässt, kein Werk vor "Carmina Burana" als gültig anzuerkennen.
Möglicherweise gehört diese Entscheidung zu Orffs Arrangement mit den Nationalsozialisten. Denn die Texte der Kantaten vor "Carmina Burana" stammen von den verfolgten Dichtern Bertolt Brecht und Franz Werfel - wobei sich auch zeigt, wo Orff geistig im Grunde verwurzelt ist, ehe er sich beugen muss.
Wobei ja auch die "Carmina Burana" umstritten sind. Nach der Uraufführung schäumt die nationalsozialistische Presse: Die lateinischen Texte wurden moniert, deren unverhohlene Erotik ebenfalls. Wiederholungen in Dresden, München und Berlin wurden abgesagt, die Reichsmusikkammer teilte Orff mit, diese "bayerische Niggermusik" sei unerwünscht.
Da das Werk aber nicht expressis verbis verboten wird, kommt es zu Aufführungen in Bielefeld und Frankfurt. Als Orffs Schüler und Freund Werner Egk 1941 in die Reichsmusikkammer berufen wird, kann Orff aufatmen - von befreitem Durchatmen kann aber keine Rede sein.
Orff lebt in ständiger Angst. Der eine Grund ist seine Freundschaft mit Kurt Huber. Huber hatte bereits 1933 Schwierigkeiten gehabt. Aufgrund der Denunziation durch den Musikwissenschafter Herbert Gerigk war Huber eine Professur an der Münchner Universität vorenthalten worden. Orff half dem dadurch in Geldnot geratenen Huber, indem er ihn zum Mitherausgeber bayerischer Volksmusik machte. Orffs Name deckte Huber politisch, die Tantiemen teilten sich die beiden Freunde. Als Huber 1943 als Mitglied der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" verhaftet und hingerichtet wird, fürchtet Orff
Auswirkungen auf seine eigene Karriere.
Zumal es in der Familiengeschichte Orffs ein wohlgehütetes Geheimnis gibt: Nach Maßgabe der sogenannten Nürnberger Rassegesetze ist Orff Vierteljude. Daraus erwächst zwar keine unmittelbare Bedrohung, doch Orff fürchtet, dass ihn die Summe der in den Augen der Nationalsozialisten abträglichen Eigenschaften, Beziehungen und Handlungsweisen zur Persona non grata machen, schlimmer noch: sein Leben gefährden könnte. Doch er bleibt unangetastet, gilt gar als einer der wichtigsten Komponisten und wird auf die sogenannte Gottbegnadeten-Liste gesetzt. Was an seinen Angstzuständen nichts ändert. Ihrer ungeachtet, hat Orff genug Courage, 1944 den Auftrag von Propagandaminister Joseph Goebbels für eine "Kampfmusik" zu einer Wochenschau abzulehnen.
Der Weg zum Welterfolg
Nach dem Ende des Nationalsozialismus gilt Orff den Amerikanern als "unacceptable", was das Ende seiner Berufslaufbahn bedeuten würde. In seinem Schüler Newell Jenkins findet er allerdings einen Fürsprecher, und das Entnazifizierungsverfahren verläuft günstig.
Dass Orff, wie beharrlich behauptet wird, nur durch die dreiste Lüge durchgekommen sei, er sei Mitglied der "Weißen Rose" gewesen, stimmt indessen nicht. Der österreichische Historiker Oliver Rathkolb konnte nachweisen, dass Orff laut den schriftlichen Protokollen lediglich von seiner Freundschaft mit Kurt Huber gesprochen hat - eine Freundschaft, die tatsächlich bestand.
Nach 1945 entwickeln sich die "Carmina Burana" allmählich, vor allem in konzertanten Aufführungen, zum Publikumsmagneten und überschatten Orffs weiteres Schaffen. Speziell Orffs Hauptwerke, die antiken Tragödien "Antigonae", "Oedipus der Tyrann" und "Prometheus" sowie seine von frühchristlichen Vorstellungen geprägte Endzeit-Vision "De temporum fine comoedia" stehen im Schatten der immer-populären Chorkantate.
Kein Wunder, dass kaum ein Dirigent sich den sicheren Erfolg entgehen lässt. Lediglich Herbert von Karajan macht schlechte Erfahrungen: 1953 will er in Mailand die "Trionfi" uraufführen, jenes Triptychon, das Orff aus "Carmina Burana", "Catulli Carmina" und dem neuen "Trionfo di Afrodite" gebildet hat. In völligem Missverständnis kürzt Karajan, der mit dem Partiturstudium zu spät angefangen hat, in die musikalischen Formen hinein und zerstört die Strukturen. Damit bricht zwischen dem bedeutendsten deutschen Komponisten der Gegenwart und dem marktführenden Dirigenten des deutschsprachigen Raums eine Eiszeit an. Die vom Musik-Business angepeilte Versöhnung der beiden bei der Uraufführung von "De temporum fine comoedia" bei den Salzburger Festspielen 1973 misslingt - abermals kommt Karajan mit Orffs rhythmischen Strukturen nicht klar.
Heute haben sich die "Carmina Burana", vor allem in konzertanten Aufführungen, längst durchgesetzt. Auch in Israel werden sie seit den Sechzigerjahren gespielt. Rund 90 unterschiedliche Einspielungen sind im Handel. Und jüngst präsentierte die Wiener Volksoper das Werk gar auf dem Wiener Westbahnhof. Kein übler Erfolg für die ehemalige "bayerische Niggermusik".