Wien. Im November 1978 machte die russisch-georgische Pianistin Elisabeth Leonskaja am Weg in die israelische Emigration Zwischenstopp in der Wienerstadt. Nur mit Abendkleid, Pyjama und Zahnbürste im Koffer ging sie Richtung Konzerthaus. Und blieb 34 Jahre. Der "Wiener Zeitung" gewährt sie vor ihrem nächsten Konzert offene Einblicke in die sowjetrussische Kultur, Rückblicke auf ihr "großes Licht" Swjatoslaw Richter und Ausblicke auf das allzu süße Leben in der Wiener Wahlheimat.

Studio Fünf im Radiokulturhaus. Draußen herrscht geschäftiges Treiben, drinnen sitzt die letzte Grande Dame der russischen Klavierschule. Mit Akribie und Humor befreit sie die Tastatur des ramponierten Übungsinstrumentes vom Staub der Zeit. Rachmaninows zweites Konzert verlangt Virtuosität. Verlangt es auch ein sauberes Klavier? Wer weiß. Leonskaja schmunzelt und putzt. Dieser Bösendorfer hat bestimmt seit zehn Jahren kein Wasser gesehen, was glauben Sie? Na, das muss für weitere zehn Jahre reichen. Noch ein Hofmannsthalscher Scherz, mit herrlich russischem Akzent vorgetragen, und schon erzählt sie über die Jugend hinter dem Eisernen Vorhang.

"Wir waren jung, also glücklich. Wir kannten es nicht anders und waren in guter Gesellschaft." Zur Spezies gute Gesellschaft gehörte zweifelsohne ihr Mentor Swjatoslaw Richter. Wie beschreibt man solch eine Persönlichkeit am Besten? Leonskaja gerät ins Schwärmen. "Großes Licht fürs ganze Leben." Ihn einfach empfinden zu dürfen, das war für die blutjunge Künstlerin das eigentliche Erlebnis. Die Achtzehnjährige musste erst lernen, nicht immer die Erste sein zu können. Da ist schon ihre Empfehlung an die jungen Kollegen: "Weniger Nase hoch, dafür mehr Ohren spitz!"

Die Sowjetunion, so Leonskaja in ihren Schilderungen weiter, sei im Nachhinein kompliziert zu beschreiben. Ja, sie fühlten ein Land voller Kultur. Aber totalitär regiert. Es gab keinerlei Selbstbestimmungsrecht. Sie persönlich hatte nach zahlreichen internationalen Konzertreisen eine fünfjährige Auslandssperre auferlegt bekommen. Auf Nachfrage wurde ihr nur mitgeteilt, dass es für sie so besser sei.

Schwarzpunkt im Pass

Heute kehrt sie gerne in die Heimat zurück. In Moskau fühlt sie sich natürlich wie ein Fisch im Wasser. 1978 war das anders. Sie haderte lange mit sich, doch die Emigration war für die freiheitsliebende Halbjüdin ("Das war ein echter Schwarzpunkt in meinem Pass.") der einzige Ausweg. Es sollte scheinbar Richtung Israel gehen, wobei das Land zu dieser Zeit keinerlei diplomatische Beziehungen zur UdSSR pflegte. Ausweg bot ein dreimonatiges Transitvisum für Wien. Sie blieb und "das Leben ging weiter".

Offen gesagt, für Leonskaja konnte es gar keine andere Wahlheimat geben, denn sie hatte sich schon viel zu sehr in die Stadt verliebt. Es sei einfach eine große Kulturstadt, wenn auch mit zwei Seiten. Sie kommt immer wieder gerne von ihren Reisen zurück, obwohl die Stadt ihre Gefahren birgt. Vor lauter Genuss, an jeder Ecke, vergisst man hier schnell, an sich zu arbeiten. Die Pianistin zitiert einen Künstlerkollegen: "Gert Voss hat einmal gesagt, dass, wenn man in Wien nicht aufpasst, man in einer Woche wie ein Stück Sachertorte wird." Herzliches Lachen.

Große Liebe Schubert

Keine Sorge, von einem Dasein als Süßigkeit ist Leonskaja weit entfernt - dafür sind die Konditoreien zuständig. Viel zu gerne und intensiv arbeitet sie an sich und an ihrem Repertoire. Franz Schubert etwa ist eine ihrer großen Lieben. Trotzdem hat sie mit dem Verstehen seiner Werke als Nichtwienerin immer ihre Probleme gehabt. Nun lebt sie aber in einer Stadt, die in jeder ihrer Fasern Musik ist. Das verlangt besonderes Einfühlungsvermögen. Früher wunderten sie Kritiken, die von "Mozart auf Russisch" oder von "Beethoven auf Russisch" sprachen. Den Sinn dieser Aussagen versteht nur, wer Wien von innen erlebt und diese Luft atmet. Je länger, desto besser. Das stellt für sie überhaupt das höchste Geheimnis dar, sich in eine andere Kultur einzuleben. Nur so funktioniert hier Schubert, Beethoven, Berg, Schönberg.