Was Wagner vorgestern bedeutete, belegen unzählige Bücher und Artikel: Er war schon der gleichsam offizielle Komponist Deutschlands, noch ehe Adolf Hitler die Macht ergriff. "Neudeutsch-preußischer Reichsmusikant" höhnte ihn etwa der "Kapital"-Autor Karl Marx. Nach Hitlers Machtergreifung wurde Wagner zum Staatskomponisten des sogenannten Dritten Reichs. Hitler verstand ihn als seinen Vordenker. Die Nürnberger Reichsparteitage ließ er nach dem Modell der Festwiese der "Meistersinger von Nürnberg" inszenieren, den Untergang erlebte er - doch, wohl auch als Finale der "Götterdämmerung", aber noch mehr wohl als das des "Rienzi".
Knackpunkt 1976
Damit schloss sich für Hitler ein Kreis, denn die Tragödie um einen Volkstribunen der römischen Spätantike war seine Wagner-Liebingsoper, seit er sie in Jugendtagen in Linz gesehen hatte. Ihr entnahm er den sogenannten "deutschen Gruß", der eigentlich das römische "Ave" ist, ihr entlieh er die Aufmärsche, Paraden und die Inszenierung seiner Auftritte als Heilsbringer eines ganzen Volks.
Doch zwischen diesem Wagner und dem Wagner von heute bestehen Unterschiede. Zwar baut das Wagner-Bild von heute auf der Kenntnis all dessen auf, was Wagners Denken auch bewirkt hat, doch allmählich tritt der Ausgleich ein. Die Anti-Wagnerstimmung der Sechziger- und Siebziger-Jahre des 20. Jahrhunderts, eine notwendige Reaktion auf die Wagner-Vergötzung der Nationalsozialisten, weicht allmählich einem ausgewogeneren Bild, das zwischen dem immer noch heftig diskutierten Schwarz und Weiß auch Grautöne und bisweilen gar bunte Farben zulässt.
Den Knackpunkt zum heutigen Wagner lieferten - ja, tatsächlich: die Bayreuther Festspiele. Zum 100-Jahr-Jubiläum der ersten Aufführung der "Ring des Nibelungen"-Tetralogie 1976 verzichtete der damalige Festspielleiter Wolfgang Wagner darauf, sich selbst als Regisseur zu engagieren, wie das viele der eingefleischten Wagnerianer erhofft hatten. Das hätte die Tradition der Bayreuther "Ring"-Inszenierungen fortgeschrieben: von Wagner selbst über seine Frau Cosima, seinen Sohn Siegfried, Heinz Tietjen, der zwar nicht dem Haus Wagner angehörte, aber der Liebhaber von Siegfrieds Frau Winifred war, und Siegfrieds Sohn Wieland. Doch Wolfgang Wagner verpflichtete für den sogenannten "Jahrhundert-Ring" ein französisches Team. Mutig allein schon das, denn wer ein echter Wagnerianer sein will, hasst Frankreich.
Und nachher war alles anders.
"Wagner ist zu wichtig, um ihn den Konservativen zu überlassen", sagte sinngemäß Pierre Boulez, der Dirigent der Produktion. So sah es denn auch aus, und so hörte es sich an. Regisseur Patrice Chéreau, bis dahin vor allem als Schauspielregisseur in Frankreich aufgefallen, erzählte den germanischen Mythos als Parabel auf den Kapitalismus und die Unmöglichkeit, Macht und Geld mit Liebe zu verbinden.
101 Vorhänge
Boulez wiederum machte mit erschlankten Orchesterfarben deutlich, wie neuartig die Musik ist. Seine pulsgenaue, klang- und kontrapunktbetonte Absage an deutschtümelndes Wabern und Wogen in meditativer Langsamkeit erweckte im Jubiläumsjahr, wie auch die Regie, Proteststürme inklusive Gewaltandrohungen für Befürworter. 1980, im letzten Jahr, in dem die Aufführung gezeigt wurde, gabs dann freilich 90 Minuten Applaus und 101 Vorhänge.
Wagner war im 20. Jahrhundert angekommen und verlässt die Gegenwart seither nur noch in Ausnahmefällen, die sich am ehesten im nordamerikanischen Raum zutragen, wo Wotan noch ein Gott zu sein hat, und Siegfried das Bärenfell gerade erst abgelegt zu haben scheint.
Doch dass Wagner, dessen ungeachtet, dem Heute gehört, bezweifelt niemand mehr ernsthaft. Aber 1976 brauchte es Mut, solches zu zeigen. Dass nämlich nicht Götter und Helden die Inhalte von Wagners Opern sind, sondern dass ihm Götter und Helden dazu dienen, Inhalte zu transportieren. Dabei ist es dann nicht relevant, ob Wotan erkennbar als germanischer Gott auf der Bühne steht, denn es geht ja um den Machthaber und seine Verstrickungen, die er durch vorgeschobene Strohmänner (und -frauen) lösen will, jederzeit bereit, jeden zu opfern, wenn es dem Machterhalt diente. Und Macht ist ja nicht an Göttlichkeit gebunden. Mechanismen, wie sie Wagner zeigt, finden sich überall, wo es Hierarchien gibt: in Firmen, Organisa-tionen, Regierungen.
So gerät aber das ganze alte Wagner-Gebäude ins Wanken - und das sicher geglaubte Bild verkehrt sich. Ist Wagner tatsächlich der Psalmist des - vornehmlich deutschen - Helden? Oder ist er, ganz im Gegenteil, der Chronist der Außenseiter? So mutiert der Fliegende Holländer vom Seefahrergespenst zum Ausgestoßenen und kommt unversehens seinem Modell Ahasveros wieder nahe. Tannhäuser wird zum Stein des Anstoßes in einer bigotten Gesellschaft, Lohengrin zum Fremden, der keine Wurzeln schlagen kann. Selbst Parsifal ist als ungebildeter, seinem Herzen folgender Jüngling ein Fremdkörper in der verfeinerten Gralsrittergesellschaft.