Wien. Die Fassade ist ein wenig abgewetzt, die Gegend still, die Luft herbsüß. Weit draußen in Hernals, einen Steinwurf entfernt von der Mannerfabrik, hat die Stargeigerin Patricia Kopatchinskaja für einen Nachmittag ihre Zelte aufgeschlagen. Weiß Gott keine glamouröse Gegend, aber hier werkt der Geigenbaumeister ihres Vertrauens, Marcel Richters. Nur kurz ist die gebürtige Moldawierin in jener Stadt, in der sie ihre Teenagerzeit verbracht hat - dann zwingt sie ihr Terminkalender wieder ins Flugzeug. Das Energiebündel mit dem immerjungen Gesicht spielt schließlich weiterhin rund 100 Konzerte pro Saison - auch wenn sie mittlerweile 37 ist und in Bern längst eine Familie gegründet hat. Ein Gespräch über den Mut zum Risiko, den "degenerierten" Klassikbetrieb und warum ihn auch Andre Agassi nicht mögen könne.
"Wiener Zeitung": Frau Kopatchinskaja, warum sind wir hier?
Patricia Kopatchinskaja: Ja, warum sind wir hier . . . (hält inne und lächelt kurz). Ich komme immer zu Marcel mit meiner Geige, wenn ich in Wien ein Konzert spiele. So ein Instrument ist ja an sich nicht dafür geschaffen, dass man viel mit ihm reist. Schwankende Temperaturen, wechselnder Luftdruck: alles sehr ungesund für dieses kleine Holzinstrument von Giovanni Francesco Pressenda.
Haben Sie früher in dieser Gegend von Wien gewohnt?
Nein. Aber ich kenne Marcel lange. Und Wien kenne ich noch viel länger. Seit ich 13 bin. Meine Familie musste ja im Jahr 1989 ihre Heimat verlassen.
Wieso "musste"? Ihre Eltern waren erfolgreiche Musiker in der UdSSR.
Es war eine Umbruchszeit. Vor allem Künstler empfanden sie als Chance, in die Freiheit zu flüchten. Man wusste ja nicht, wie es weitergehen würde. Wir Kinder bekamen in Wien die beste Ausbildung, die man sich vorstellen konnte. Auch die Konzerte . . . Ein Stehplatz im Musikverein kostete 15 Schilling, ein Witz! Ich genoss die Stadt als Studentin der Musikhochschule in vollen Zügen. Ich hab damals auch viel komponiert und das bei Iván Eröd studiert. Ich erinnere mich mit großer Nostalgie.
Auch, weil Sie heute nicht mehr zum Komponieren kommen?
Ja, ich hab keine Zeit dafür. Mein Brot ist die Geige - das Komponieren ein Traum, den ich mir noch erfüllen muss. Aber ich glaube, das ist eine Facette, die mich mit ausmacht. Auch wenn ich nur etwas interpretiere, stelle ich mir vor, dass ich der Komponist bin, dass die Musik mit aller Wichtigkeit und Dringlichkeit in diesem Moment geboren werden muss auf der Bühne. Was man auch spürt, wenn man selbst komponiert: Der aufgeschriebene Ton ist nicht alles.
Sie vergleichen ein Musikstück ja gern mit einer "Seele" . . .
Richtig. Ein Stück stirbt nicht - jedenfalls nicht, wenn es immer wieder aufgeführt wird. Man muss diese "Seele" dann aber in unsere Zeit begleiten; und sie muss sich uns so erklären, dass wir sie verstehen. Ein Aspekt des Werks, der früher wichtig war, ist es heute vielleicht nicht mehr.
Muss man bei dieser Seelensuche auch riskieren?
Ja, und je mehr man riskiert, desto näher ist man der Wahrheit. Weil man sich auf Messers Schneide bewegt. Wenn man sich immer nur wiederholt, hat das nichts mit Kunst zu tun.
Sie sagten einmal, es gibt zu wenig Skandale in Klassikkonzerten.
Die Einmaligkeit des Konzertes ist durch die Plattenindustrie kaputtgemacht worden. Die hohen Erwartungen der Zuhörer, auch die Erwartung der Interpreten an sich selbst - das ist so unmenschlich, dass da keine lebendige Musik entstehen kann. Es geht nur, wenn man Fehler macht. Dann erfährt man etwas Neues.
Sie spielen oft genug "Neue Musik", also Stücke von zeitgenössischen Komponisten. Wie kamen Sie als Tochter traditioneller Musiker zu dieser Leidenschaft?
Durch das Selber-Komponieren. Für mich war es als Studentin nie interessant, das Brahms-Violinkonzert aufzupolieren, sondern Stücke meiner Kollegen zu probieren. Wie Brahms klingen soll, wird unterrichtet. Aber das interessiert mich nicht, sondern: wie etwas klingen könnte. Einmal saß ich irgendwo in Deutschland in einem Restaurant und merkte, dass Steffi Graf und Andre Agassi am Nachbartisch sitzen. Ich fragte mich: Kommen die heute Abend wohl in mein Konzert? Und ich dachte: nein. Warum nicht? Weil man in einem klassischen Konzert weiß, wies ausgeht, im Sport nicht. Es ist zu vorhersehbar, was wir machen, und wir spielen immer dasselbe. Das ist auf eine gewisse Art so degeneriert und versteinert, dass wir uns fragen müssen: Hat das noch etwas mit Zukunft, geschweige denn mit heute zu tun?
Wie viele Noten bekommt man als weltberühmte Geigerin mit dieser Überzeugung zugeschickt?
Sehr viele, was mich freut. Aber ich bin auch sehr traurig, weil ich mir nicht alle ansehen kann. Es ist wichtig, sich als Interpret nicht nur mit Etabliertem zu befassen. Ich denke auch, dass große Bühnen workshopmäßiger sein sollten, nicht nur glanzvolle Präsentationsflächen für die Privilegierten. Es muss immer eine Revolution stattfinden, ein Protest, eine Konfrontation.
. . . was doch aber gerade in der klassischen Musik schwer ist.