Es gibt Biographien, die sich wie Drehbücher lesen. Im Falle von Albéric Magnard wäre die Versuchung für den Regisseur wohl groß, den Streifen mit der letzten, der spektakulärsten Lebensszene beginnen zu lassen: Nach dem Vorstoß deutscher Truppen im August 1914 bringt der französische Komponist seine Frau und die beiden Töchter in Sicherheit. Er selbst bleibt arbeitend auf seinem Landgut in Baron, in der östlichen Picardie, zurück und erwartet den heranrückenden Feind. Am 3. September erspäht Magnard Kavalleristen einer deutschen Aufklärungspa-trouille Alexander von Klucks auf seinem Grundstück. Er lädt sein Armee-Gewehr und zielt vom Fenster seines Hauses auf die Soldaten. Einer ist sofort tot, ein zweiter schwer verwundet. Magnard ignoriert die Aufforderungen, sich zu ergeben. Daraufhin wird das Feuer erwidert. Das Haus brennt bis auf die Grundmauern ab. Der Künstler kommt in den Flammen um, seine Manuskripte werden vernichtet.

Ein Geist, der verneint

Albéric Magnard - Holzschnitt eines unbekannten Künstlers.
Albéric Magnard - Holzschnitt eines unbekannten Künstlers.

Ein Heldentod? Mort pour la France? 1927 hat man eine Straße im 16. Arrondissement von Paris umbenannt: nicht irgendeine Straße, die Richard-Wagner-Straße hieß fortan Rue Albéric Magnard. Doch dass Magnard, abgesehen von seinem dramatischen Sterben, tatsächlich ein Held war, lässt sich anhand seines Lebensweges nicht konstatieren. Eher formt sich das Charakterbild eines in sich gekehrten, stolzen, eigenwilligen Künstlers, eines Geistes, der gerne und oft verneint: Magnard ist kein "kleiner" Künstler (tatsächlich war er nur 1,62 Meter groß), vielmehr einer, der sich lieber klein macht, als falsche - in seinen Augen ungerechte - Größe zu akzeptieren.

Postkarte mit Ruine des Anwesens von Magnard in Baron. wikipedia
Postkarte mit Ruine des Anwesens von Magnard in Baron. wikipedia

"Sohn des Figaro" wird er in seiner Jugend genannt. Magnards Vater ist Bestsellerautor, Herausgeber und Chefredakteur der Zeitung "Le Figaro"; er hat für seinen Aufstieg - vom Zollbeamten am Pariser Martin-Kanal zum Medienzar - hart kämpfen müssen. Der Sohn, mit der Möglichkeit zur besten sozialen Vernetzung aufgewachsen, will sich nicht in ein gemachtes Nest setzen. Er findet seinen Weg über Seitenpfade; gleich nach der Schule probiert er für ein halbes Jahr ein klösterliches Leben in England. Nach dem Militärdienst absolviert er ein rechtswissenschaftliches Studium. Musik hat ihn schon als Kind fasziniert. Sie wird zu seinem geheimen Rückzugsort, hilft wohl auch, scharfkantige Bruchlinien zu mildern. Eine davon bricht in seiner frühen Kindheit auf: Die Mutter des Vierjährigen stürzt sich in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster - und stirbt.

Die zweite Ehefrau seines Vaters lehnt der Sohn ebenso ab wie alle Kontakte, die ihm der Vater zu vermitteln versucht. Die sogenannte "gute Gesellschaft" interessiert Albéric wenig. Journalistischen Lock-Angeboten misstraut er: Wer will mit ihm - und wer doch eher mit seinem mächtigen Vater verkehren? Magnards skeptischer Geist stellt in einem Brief die prinzipielle Frage: "Journalist? Ist es denn in Ihrer Natur, tausende Plattitüden zu produzieren, um schließlich als erster eine Neuigkeit zu wissen, die man morgen dementieren wird?" Nur ein Offert schlägt er nicht aus: Magnard junior formuliert Musikkritiken für den "Figaro"; Texte, die ihm keine Freunde, sondern eher Feinde bescheren werden . . .

Lob seinem eigenen Werk gegenüber wird er zeitlebens skeptisch bleiben. So mancher Zeitgenosse gewinnt den Eindruck, Magnard tue alles, um von der großen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen zu werden. Das beträchtliche väterliche Vermögen macht den Komponisten soweit unabhängig, dass er keine künstlerischen Kompromisse eingehen muss. Sofern er seine Konzerte nicht selbst finanziert, ist es sein Studienfreund Guy Ropartz, seit 1894 Leiter des Konservatoriums in Nancy, der Magnards Werke aufführt.

Beethoven verbunden

Ropartz wird es auch sein, der - aus dem Gedächtnis - die im Feuer verlorengegangenen Akte der Oper "Guercur" rekonstruiert. Post mortem - das Stück kommt Anfang der 1930er Jahre erstmals auf die Bühne. Magnard war zeitlebens am Beifall des Publikums wenig interessiert - trifft ihn doch jede in seinen Augen unfaire Kritik, die nicht nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, ins Mark. Was, fragt manch einer, bliebe von seinen Kompositionen - wenn nicht der Einfluss des allmächtigen Vaters so groß wäre? Solchen Vorurteilen begegnet Magnard gallig, in humorloser Verbitterung. Er hat sehr genaue Vorstellungen von seiner kompositorischen Position.

Den musikalischen Impressionismus lehnt er ab. Eher fühlt er sich der schnörkellosen Klassik eines Ludwig van Beethoven verbunden. Dennoch glaubten die Chronisten stets, Affinitäten zu Gabriel Fauré, César Frank, aber auch zu Gustav Mahler aus seinen Klängen heraushören zu können. Magnards Opern arbeiten mit der Leitmotiv-Technik Richard Wagners und untermauern so das Urteil, sein gesamtes Werk bliebe der Romantik verhaftet. An seinen Freund Ropartz schreibt Magnard, die "Debussy-Revolution" sei das Vorspiel zu einer Evolu- tion, die "zur endgültigen Zerstörung der europäischen Musik führen" würde.