Musik wird gerne als eine Weltsprache bezeichnet, die ein jeder Mensch auf Erden versteht. Dabei ist sie alles andere als das. Denn das Hören will trainiert sein, wie eine jede Sprache muss man auch sie lernen. Allerdings ist die Anzahl an Musiksprachen, die in Europa zu hören sind, bescheiden. Nicht von ungefähr kritisierte Friedrich Gulda 1969 in einer Rede, dass anstatt musikalischer Geografie musikalische Heimatkunde dominierte.

Außereuropäische Musik wird auch heute sowohl in den Konzert- und Opernhäusern als auch im Radio kaum gespielt. Und damit sind nicht nur die Werke US-amerikanische Komponisten wie Feldman, Cage oder Reich gemeint, sondern auch traditionelle und moderne Musiken aus Asien oder Afrika. Wie Berthold Seliger, Autor und Konzertagent, in seinem aktuellen Buch "Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle" betont, ist die Welt nach den Vorstellungen des Westen musikalisch kartographiert: Ein eurozentristischer Kanon gibt den Ton an, der vor allem aus Romantik und Klassik besteht.

Trend zum "Unterhaltungshörer"

Folgt man Seligers Argumentation, ist Ernste Musik heutzutage ihrer eigentlichen Funktion beraubt und dadurch banalisiert. Anstatt Fragen aufwerfen, zu beunruhigen, - oder, wie Harnoncourt einmal zu Mozarts Sinfonie in g-Moll, sagte, dass es die "Hörer bis ins Innerste aufgewühlt hat" - wird Klassik als Entspannungstool angepriesen, als leicht verdauliche Kost. Mit im Gefolge eine "klebrige Pseudosinnlichkeit" und eine Klassikindustrie, die dem Trend zum "Unterhaltungshörer" fröhlich Folge leistet und mit "Klassik light" frohlockt.

Derweil hat diese wenig Grund zu Freude, hat sie mit Absatzschwierigkeiten und einer Vergreisung, deutlich sichtbar am "sogenannten Silbersee" in den Konzert- und Opernhäusern, zu kämpfen.Alles ist Ware, nichts mehr Inhalt. Auch in der Musik. Seliger zeig, wie Solisten zu Werbeträgern werden, Dirigenten zu Pultstars, Sänger zu Marken. Er setzt sich in seinem Buch nicht nur mit den Ursachen der Systemkrise der Ernsten Musik, mit den Vermarktungsstrategien, der Kommerzialisierung, dem Quotendenken oder Starwesen auseinander, sondern auch mit der Ritualisierung im Klassikbetrieb, dem Bildungsbürgertum sowie mit einer anderen Sichtweise auf E- und U-Musik.

"Prinzip Beethoven"

Das Buch bleibt jedoch nicht bei der Kritik am Zustand der Musik der Gegenwart stehen, sondern weist auf Wege aus dieser Einbahnstraße hin: Am Beispiel derer etwa, die sich dieser Oberflächlichkeit entziehen und die verdrängten Potentiale der Ernsten Musik am Leben erhalten oder in einem eigenen Kapitel über Musikunterricht und Schulbildung. Und am "Prinzip Beethoven" zeigt er, dass ein anderes Musikverständnis zur Selbstermächtigung beitragen kann.

Das Buch ist für Neulinge auf diesem Gebiet ebenso wie für Fortgeschrittene geschrieben, neben Parallelen zur Populärkultur webt er detaillierte Musikanalysen ein oder verweist auf außergewöhnliche Interpretationen auf YouTube. Auch gibt es Abstecher in die Vergangenheit samt historischer Überblicke, etwa zu Beethoven und Frankreich während und nach der Revolution, zu Schubert und der Zensurherrschaft des Biedermeier.Auf den rund 450 Seiten, die sich in vier große Teile gliedern, schreibt Seliger flüssig und mit Wortwitz.

"Klassikkampf" ist auch ein sehr persönliches Buch, in das der Autor, einst als Klavierlehrer tätig, eigene Erlebnisse und Anekdote einfließen lässt. Davon abgesehen basiert es auf Schriften aus Philosophie, Soziologie, Politik und Geschichte, auf Interviews mit Musikern und Dirigenten, musikhistorischen Quellen, und zum Teil aus eigenen Analysen aktueller Konzertprogramme und Statistiken. Es gibt einen umfangreichen Anhang mit Quellennachweisen und Literaturverzeichnis, ein Personen-und Sachregister leider nicht. Und viele der im Buch erwähnten Werke kann man sich auf einer frei zugänglichen Playlist anhören.

Seligers "Klassikkampf" ist nicht nur die Aufforderung zur Rückeroberung der Musik aus den Fängen von Konsum und Distinktionszwang, sondern auch ein leidenschaftliches Buch im doppelten Sinne: über das Schöne und das Schreckliche - was Musik verkommen und was sie erblühen lässt.