
Wartend lehnen die Kontrabässe auf der mobilen Bühne vor der weißen Fabrikswand. Ihr einziger Schmuck: Die silberne Industrieuhr, die zwar falsch geht, aber das dafür auf die Minute genau. Und der wohl am meisten als Bitte ausgelegte Imperativ unserer Zeit - "Rauchen verboten" -, der sich in harten, schwarzen Lettern ein Stück seiner Autorität zurückholen will. Bloß der obligatorische Blumenschmuck an den vorderen Ecken der Bühne bringt verschämt einen Hauch Musikverein in die umfunktionierte Fabrikhalle F23 der ehemaligen Sargfabrik in Liesing. Abgesehen von den Wiener Symphonikern natürlich, die hier in ein paar Minuten die Bühne fluten werden.
Ins Gewurl der Stadt
Seit Anfang des Jahres scheuchen sie die Klassik mit ihren Grätzl-Konzerten aus ihrem elitären Habitat der Konzertsäle heraus, mitten ins "Gewurl" der Stadt. Besonders die Konzerte am 2. Mai in der alten Sargfabrik und am 4. Mai in der ehemaligen Anker-Expedithalle in Favoriten bringen aber nicht nur die Klassik vor die Haustüren, sondern zerraufen ihr auch gleich ein paar Strähnen der glatt gekämmten Frisur. Denn wo tritt der urbane Lifestyle der drohenden Verkalkung wohl heftiger gegen das Schienbein als in alten Fabrikshallen, die sonst eher bei Szene-Events von Mittzwanzigern mit Jute-Beuteln geflutet werden?
Es ist wohl das Trend-Schlagwort der letzten Jahre schlechthin: retro - das Entstauben von längst schon ins Regal Gestelltem. Und besonders in Liesing beutelt man das althergebrachte Setting klassischer Konzerte aus wie einen muffigen Teppich. An der Palettenbar gibt’s selbstgebrautes Bier, trendige Luster hängen von der Fabriksdecke, Besucher in Jackett und Sommerkleid halten ihren Ausflug ins Hipster-Universum in der Fotoecke mit Accessoires vom Faschingswühltisch fest. Die Stimmung ist gelöst. So gelöst sogar, dass es absolut kein Problem ist, die Errungenschaften der Bar in einem Plastikbecher mit in den Veranstaltungssaal zu nehmen. Der einzige Unterschied zu einem Rock-Konzert bisher: die Sitzplätze. Auch die 70 auf der Bühne. Und natürlich der Blumenschmuck.
Klassisches und Kultiges
So wie sich die Klassik mit Kultigem mischt, so mischt sich auch das Publikum durch. Eingefleischte Symphoniker-Fans treffen auf interessierte Grätzl-Bewohner. Einig sind sich so gut wie alle: ein wirklich gelungener Abend. Sowohl in Liesing als auch in Favoriten. Immer wieder erkennt man sich zwischen den Sitzreihen, erfreut, sich auch einmal bei so einer Gelegenheit im Grätzl zu treffen. Und nicht nur das: Beim zweiten Konzert in Favoriten trifft man auch auf allgemein bekannte Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, über deren tatsächliche Anwesenheit einige Besucher leise munkeln. Hier ist die Stimmung wieder um einige Krawatten feierlicher. Und auch an der Expedithalle selbst mit ihren hellen PVC-Böden und renovierten Räumen erinnern eigentlich nur mehr eine einzige rohe Backsteinwand und die Metallstreben an der Decke an die industriegetriebene Vergangenheit. Plastikbecher unter den Sitzen würden die Lässigkeit an diesem Abend also doch eher überstrapazieren.
Die beiden Expeditionen der Wiener Symphoniker in die Fabriken führt die finnische Dirigentin Eva Ollikainen mit großer Hingabe und viel Charisma an. Die Harmonie zwischen ihr und den Musikern ist spürbar, obwohl die Grätzl-Konzerte ihre erste Zusammenarbeit sind. Denkbar aber, dass sie bloß den Anfang für noch Folgendes markieren. Präzise geleitet sie das Orchester jedenfalls durch eine Hitparade klassischer Musik, während Moderatorin Teresa Vogl das Publikum immer wieder inhaltlich an die Hand nimmt. Zwischen der Figaro-Ouvertüre und dem vierten Satz der Dvorák-Symphonie "Aus der neuen Welt" erwischt man sich bei Evergreens wie der "Morgenstimmung" aus "Peer Gynt" oder dem "Chanson du Torèador" aus "Carmen" fast schon beim Mitsummen. Oder erinnert sich mit stillem Lächeln an die Rama-Werbung. Da macht es auch nichts, dass die Akustik das eine oder andere Virtuosum etwas schluckt. "Konzerte, die künstlerisch sehr herausfordernd sind, muss man in sehr guten Konzertsälen proben und spielen, weil das sonst technisch und klanglich zu schwierig wäre", erklärt Ollikainen. "Aber bekannte Programme kann man natürlich auch anderswo spielen." Und um eine möglichst innovative Stückauswahl geht es hier ja auch nicht. Sondern ums Herausschnuppern des Orchesters aus dem Konzertsaal und um ein Hineinschnuppern in die Klassik für all jene, die sie sonst womöglich nicht erreichen würde. Das klappt natürlich am besten mit unangefochtenen musikalischen Dauerbrennern.