Es bleibt eine Gretchenfrage: In welcher Fassung soll man die Symphonien von Anton Bruckner aufführen? Darf es die erste, zweite oder gar dritte des wankelmütigen Oberösterreichers sein? Bei Gustav Mahler liegen die Dinge einfacher. Auch er hat gern immer wieder an seinen Symphonien gefeilt; die Nachbesserungen waren aber nicht Einflüsterungen geschuldet. Und: Die Werke haben dabei gewonnen. Etwa im Fall der Ersten Symphonie: Die kam 1889 noch in anderer Form zur Welt. Der damaligen Mode folgend, liebäugelte Mahler mit einer Art unsichtbaren Handlung für seinen Erstling.

Gustav Mahler Titan - EineTondichtung in Symphonieform (harmonia mundi)
Gustav Mahler Titan - EineTondichtung in Symphonieform (harmonia mundi)

Darum sprach er auch nicht von einer "Symphonie", sondern einer "Tondichtung" und versah sie recht bald mit dem Titel "Titan". Was erlebt diese Hauptfigur in rund einer Musikstunde? Mahler stellte Schlagwörter über die einzelnen Sätze: Sein Ohrenkino beginnt mit "Blumen-, Frucht- und Dornstücken" "aus den Tagen der Jugend", im Scherzo zieht der Held "Mit vollen Segeln" in die Welt, über dem Finale prangt das Motto "Aus der Hölle". Reichlich Theaterschminke für das Debüt eines Symphonikers. Mahler hat sich später von diesen Beiworten verabschiedet, und er strich auch den charmanten, aber schwächelnden Satz "Blumine". Übrig blieb ein typischer Viersätzer, den er klassisch betitelte. Diese "Symphonie in D-Dur" wird heute landauf, landab gespielt.

Duo Tsuyuki & Rosenboom Variations2
Duo Tsuyuki & Rosenboom Variations2

Klingen die älteren Versionen abenteuerlicher? François-Xavier Roth hat die zweite Fassung eingespielt und lässt sein Orchester Les Siècles auf Instrumenten der Uraufführungszeit arbeiten - das Ergebnis verblüfft. Allerdings nicht wegen des musikalischen Inhalts: Abgesehen vom "Blumine"-Satz wird das Ohr nicht überrascht. Frappant ist dagegen der Sound: Das Orchester agiert drahtig, schlank und transparent, beschert damit ein recht ebenmäßiges, klassisches Klangbild. Daraus stechen die Extravaganzen Gustav Mahlers - seine grellen Klangfarben, die Faust-aufs-Auge-Kontraste - wesentlich stärker hervor als im üppigen Sound der gewohnten Einspielungen. Hie und da bleibt Roth zwar ein wenig Drive schuldig; detailgenauer lässt sich dieses Werk aber kaum dirigieren, an dem Mahler immer wieder gefeilt hat.

Reizvoll auch, wenn ein Komponist das Werk eines Kollegen fortspinnt - wie im Fall der "Geistervariationen". Der umnachtete Robert Schumann hat sie knapp vor seinem Tod verfasst; Johannes Brahms hat die Melodie später aufgegriffen und um weitere Variationen für zwei Pianisten angereichert, gipfelnd in einem berückenden Finale. Das Klavierduo Tsuyuki & Rosenboom legt auf seiner neuen CD weitere solche Raritäten vor, darunter eine aparte Reverenz von Saint-Saëns an Beethoven sowie die wohl durchgeknalltesten Paganini-Variationen aller Zeiten aus der Feder von Witold Lutosławski.