Welch seltsame Schicksale manche Opern doch haben! Samuel Barbers Oper "Vanessa" war bei der Uraufführung an der New Yorker Metropolitan Opera im Jänner 1958 ein Sensationserfolg - trotz der Produktionsprobleme im Vorfeld. Denn Maria Callas, der Barber die Hauptrolle auf die Stimme geschrieben hatte, wollte mit einem Mal nicht mehr, die Einspringerin Sena Jurinac erkrankte während der Proben - Eleanor Steber sprang ein und ersang sich einen der größten Triumphe ihrer Karriere. Auch sonst war die Aufführung exquisit besetzt: Nicolai Gedda, Regina Resnik und Giorgio Tozzi sangen, Dimitri Mitropoulos stand am Pult. Dem Komponisten wurde der Pulitzerpreis für das beste amerikanische Musikwerk des Jahres zuerkannt. Voller Stolz zeigte man die Produktion bei den Salzburger Festspielen desselben Jahres - und fiel mit Bomben und Granaten durch. Was in den USA als Modell einer amerikanischen Oper empfunden wurde, galt beim europäischen Elite-Festival als postpuccinesker Kitsch. Von diesem Ruf hat sich das Werk, auch nach einer Revision durch den Komponisten, nie wieder ganz erholt.

Die nun vorgelegte Aufführung aus Glyndebourne jedoch zerstreut alle eventuell vorhandenen Vorbehalte: "Vanessa" ist eine der spannendsten Opern des gesamten Repertoires. Wäre Alfred Hitchcock Komponist gewesen - so hätte seine Oper ausgesehen. Tatsächlich soll der Großmeister des Suspense einmal beim "Vanessa"-Librettisten Gian-Carlo Menotti wegen eines Drehbuchs angefragt haben.

Menotti hat bei den Texten für seinen eigenen Opernthriller eine unfehlbare Hand für Spannung bewiesen. "Vanessa", für seinen damaligen Lebensgefährten getextet, ist inspiriert von der Atmosphäre, nicht aber einer Handlung von Tania Blixens "Seltsamen Geschichten": Da sind in einem Landhaus alle Spiegel verhängt, Vanessa kann nicht ertragen, dass sie altert, während sie auf ihren Geliebten Anatol wartet. Auf einmal steht er vor ihr - er scheint jung geblieben. Doch dieser Anatol ist der Sohn von Vanessas Geliebtem, und er begehrt nicht Vanessa, sondern deren Nichte Erika, die freilich an seinen ehrlichen Absichten zweifelt. Am Schluss werden wieder die Spiegel verhängt werden. . . Diese Oper hat etwas von Hitchcocks "Rebecca": Es gibt nichts Unheimliches, und doch lassen Geheimnisse und Abgründe die Luft vor Spannung vibrieren.

Barber wölbt seine Musik in weiten romantischen Bögen über geschärften tonalen Akkorden, seine Melodien kennen Puccini, seine Farben Richard Strauss. Und doch ist dieses Schwelgen und Glühen eigenständig, nämlich kraft der Persönlichkeit des Komponisten. Keith Warners Inszenierung mit der fulminanten Emma Bell in der Titelrolle verbindet Schauergeschichte und Tennessee-Williams-Flair zu einer Atmosphäre mit Gänsehaut-Garantie: Oper, mindestens so spannend wie ein Thriller.