Leonard Bernsteins "Mass" sorgte zur Zeit der Uraufführung 1971 für so manchen Skandal: Darf ein jüdischer Komponist eine christliche Messe bis zur Zertrümmerung dekonstruieren? Prompt war die Frage gestellt, was geschähe, würde ein christlicher Komponist so mit einem jüdischen Gottesdienst verfahren. Sogar zehn Jahre später, als die Wiener Staatsoper "Mass" in einer mustergültigen Produktion zeigte, waren im Publikum und in der Kritik die gerümpften Nasen allgegenwärtig.

Dass die ganze Aufregung indessen in eine falsche Richtung geht, hätte man schon ahnen können, hätte man sich bewusst gemacht, wer die Auftraggeberin war, nämlich Jacqueline Kennedy.
Sowieso ist "Mass" keine Messe, sondern ein Musiktheaterstück über eine Messe - und, Bernstein hat das Wortspiel beabsichtigt, eine Studie über Gruppendynamik. Denn "Mass" bedeutet im Englischen "Messe" und "Masse", "Volksmenge".

Die Dekonstruktion entspringt einer Überlegung, die zutiefst christlich und gleichermaßen zutiefst jüdisch ist: Wie ist eine religiöse Friedensbotschaft möglich angesichts einer Welt, in der Hass und Gewalt den Ton angeben? Die Gemeinde konfrontiert den Zelebranten mit immer bohrenderen Fragen, über denen er im "Dona nobis pacem" verzweifelt. Doch sein wahnsinnsnaher Ausbruch eint die Gläubigen wieder: Was auseinandergefallen ist, versuchen sie, in der letzten Friedensbotschaft doch wieder zu verbinden.
Die Aufregung um "Mass" hat sich mittlerweile gelegt. Geblieben ist die Erkenntnis, dass Bernstein ein solitäres Musiktheaterwerk geschaffen hat, in dem er in kühner Vorausschau alles zusammenfasst, was später als musikalische Postmoderne Furore machen wird. Es ist, als hätten Carl Orff, Benjamin Britten und die Beatles ein Gemeinschaftswerk zur Feier der Flower-Power-Bewegung geschrieben und Strawinski eingeladen, einige der lateinischen Mess-Teile im Stil seiner späten zwölftönigen Sakralwerke zu komponieren.
Die Neueinspielung unter dem Dirigenten Dennis Russell Davies mit überwiegend Wiener Kräften (RSO, Singakademie, Schüler der Opernschule der Wiener Staatsoper) ist in weiten Teilen fulminant. Die Begeisterung wird nur von einem Missverständnis nachhaltig getrübt: Bernstein wusste genau, weshalb er den Zelebranten, trotz dessen Ausflüge in den Pop-Bereich, mit einem Opernsänger besetzte. Spätestens im "Sanctus" ist ein Pop-Barde überfordert und noch mehr in der Wahnsinns-Szene nach dem "Dona nobis pacem", die Brittens "Peter Grimes" näher steht als den Beatles.
Dass der tschechische Pop-Star Vojtěch Dyk den Zelebranten in einer tschechischen szenischen Tournee-Produktion psychologisch differenziert verkörpert hat, ist kein Trost dafür, dass er auf dem rein akustischen Dokument auch die klassischen Passagen nur mit den pop-typischen Schleifern bewältigt. Jeder hohe Ton, den ein tenoral gefärbter Bariton zum Strahlen bringt, gerät bei Dyk flach und angestrengt. Die von ihm im Ausdruck gut angelegte Wahnsinnsszene scheitert an seinen vokalen Möglichkeiten.
Und so bleibt die maßstabsetzende "Mass"-Einspielung (nach Bernsteins eigener, versteht sich von selbst) die von Marin Alsop - ausgerechnet der Dirigentin also, die jetzt Chefin des RSO Wien ist, das Davies’ bei seiner "Mass"-Einspielung zur Verfügung stand. Aber vielleicht macht sie ja "Mass" mit dem Orchester einmal live. Die Hoffnung lebt!