Was, um alles in der Welt, kann Hans Werner Henze nur gereizt haben, ausgerechnet Heinrich von Kleists Drama "Der Prinz von Homburg" zur Oper zu formen?

Von allen großen klassischen Dramen scheint diese personen- und wortreiche militärische Haupt- und Staatsaktion so ziemlich am ungeeignetsten. Überhaupt: Kleist gesungen? Der Dramatiker der langen Sätze, die sich kaum sprechen lassen?
Dennoch: Seine "Penthesilea" hat Othmar Schoeck (genial) vertont, den "Amphitryon" Giselher Klebe als "Alkmene" und den "Zerbrochnen Krug" haben zumindest Viktor Ullmann, Fritz Geißler und Flavio Testi zur Oper umgeformt. Es muss also was dran sein an Kleist, was Komponisten reizt.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
Was es sein mag, merkt man, wenn man einen Text Kleists, und sei es "Die Familie Schroffenstein", laut liest: Die Sätze sind lang, aber präzise gegliedert. Sie geben dem Komponisten nicht allein einen Sprachrhythmus vor, sondern auch Perioden, und vor allem hat die Sprache einen hymnischen, oft ekstatischen Tonfall, der sich auf der heutigen Sprechbühne wesentlich abseitiger ausnimmt als gesungen im Musiktheater.
Obendrein hat Henze Ingeborg Bachmann als Bearbeiterin des Textes gewinnen können: Sie hat Kleists Sprache unangetastet gelassen, wohl aber aus dem Drama durch Kürzungen und neue Gewichtungen etwas Anderes gemacht. Das Militärische ist nur noch auslösender Faktor, es spielt in der Oper eine untergeordnete Rolle. Aus dem draufgängerischen Prinzen, der immerhin durch eine Missachtung der Befehle die Schlacht bei Fehrbellin gewinnt, wird in der Oper der Träumer und Schlafwandler, der er bei Kleist auch, aber eben nur auch ist - wie ja überhaupt Ingeborg Bachmanns Libretto allem Lyrischen breiten Raum gewährt.
Henze setzt gleich zu Beginn das Signal: Traum, kristallene Schönheit, Kantabilität. Im Hintergrund laufen zwölftontechnische Verfahren ab, die sich nur bei den wenigen kriegerischen Dingen scharfgezackt in den Vordergrund drängen.
Capriccio legt die 1960 uraufgeführte Oper in der zweiten Fassung von 1991 vor, in der Henze das Orchester verkleinert hat, um das Werk noch deutlicher in Richtung einer Kammeroper zu rücken. In dieser Version gab es das Werk bisher nur als DVD mit einer Inszenierung Nikolaus Lehnhoffs, dirigiert von Wolfgang Sawallisch: Besser ginge es nicht, konnte man meinen.
Die Capriccio-Aufnahme, ein Mitschnitt einer Produktion der Staatsoper Stuttgart, belehrt eines Anderen. Das liegt in erster Linie am Dirigenten Cornelius Meister, 2010-2018 Chefdirigent des RSO Wien und jetzt der Stuttgarter Staatsoper, der Henzes fragile Lyrismen mit ungeheurer Spannung erfüllt und dem Orchester einen Farbenreichtum abgewinnt, den man selbst bei dieser höchst differenzierten Partitur kaum für möglich gehalten hätte. Meisters überlegene Tempodramaturgie ermöglicht es dabei, dass sich Henzes kantable Linien zur Melodie verdichten, was Robin Adams in der Titelrolle nützt, um mit wunderschön geführtem Tenor die Sinnlichkeit dieser neuen Italianità vorzuführen. Überhaupt wird grandios gesungen, ob nun von Štefan Margita, Vera-Lotte Böcker, Helene Schneiderman oder Michael Ebbecke.
Eine der wichtigsten CD-Veröffentlichungen im Segment Oper in der letzten Zeit. Und wie schon bei Gottfried von Einems "Prozess", Webers "Peter Schmoll" und "Euryanthe", beim Label Capriccio. Es fällt auf, und das äußerst angenehm.