Was wäre ein Film ohne Musik? - Aber wie viele Komponisten haben auf ihre Filmmusiken die gleiche Sorgfalt verwendet wie auf ihre Opern und Symphonien? Erich Wolfgang Korngold bestimmt, mit Sicherheit der bedeutendste Filmkomponist überhaupt, und Bernard Herrmann, der einzige, der an ihn heranreicht. Einige Briten nützten die Filmmusik für Experimente, Benjamin Britten in den Dreißigerjahren etwa. Auch in der Nachkriegszeit schrieben etliche britische Neutöner für die Hammer-Horrorstreifen, um absonderliche Klangideen auszuprobieren und gleichzeitig ein wenig Geld zu verdienen.
Der Brite William Alwyn war keiner dieser Experimentatoren. Er stand ganz in der Korngold-Tradition, und das keineswegs nur in der Musik zu Robert Siodmaks Piratenfilm "Der rote Korsar" ("The Crimson Pirate"), sondern auch im Kriegsfilm "Malta Story", im "Titanic"-Katastrophenfilm "A Night To Remember", im Jules-Verne-Abenteuer "In search of the Castaways" ("Die Kinder des Kapitän Grant") und im Thriller "The Running Man" ("Der zweite Mann"). Alwyn führte dabei, anders als Korngold, der auch Filmmusik und anders als Herrmann, der auch Konzertmusik und eine Oper komponierte, eine echte Doppelexistenz. Zu seinen rund 40 Filmmusiken kommen 5 Symphonien, 2 Klavierkonzerte, etliche Konzerte für andere Instrumente, darunter ein Harfenkonzert, Klavier- und Kammermusik und vier Opern.

Deren letzte, "Miss Julie" nach August Strindbergs Tragödie "Fräulein Julie", stammt aus dem Jahr 1977 und hat nun ihre zweite Einspielung erfahren. Die erste legte das Lyrita-Label 1983 in einer Luxusbesetzung mit Jill Gomez, Benjamin Luxon, Della Jones und John Mitchinson vor.
Schon stutzt der Kenner von Strindbergs Drama: Vier Personen? Die Einführung des Wildhüters Ulrik gehört zu den wenig glücklichen Ideen Alwyns in seinem eigenen Libretto. Aber auch der hochprofessionelle Kenward Elmslie blies in seinem "Miss Julie"-Libretto für den US-amerikanischen Komponisten Ned Rorem das Drei-Personen-Drama auf vier Rollen plus drei winzige Nebenrollen auf.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
Die Neuaufnahme von Alwyns Oper bei Chandos ist fulminant: Dirigent Sakari Oramo lässt das BBC Symphony Orchestra in allen möglichen Nuancen funkeln und dunkel drohen. Anna Patalong, Benedict Nelson, Rosie Aldridge und Samuel Sakker sind in Stimmfarbe und Ausdruck Idealbesetzungen.
Vielleicht ist gerade das die Ursache dafür, dass man auch den Fehler von Alwyns Ansatz merkt. Anders als etwa der Italo-Norweger Antonio Bibalo, der seine "Fräulein Julie"-Oper auf Strindbergs Text aufbaut und sich ganz auf die psychischen Spannungen konzentriert, rückt Alwyn das Stück in die Nähe eines klaustrophobischen Horrorthrillers, dessen Atmosphäre sich zwar unmittelbar auf den Zuhörer überträgt - nur hat das Resultat weniger mit Strindberg als mit Hammer-Filmen wie "Ein Toter spielt Klavier" zu tun. Irgendwann, wenn das Orchester wieder einmal wohlig in den Abgründen der Seele wühlt, fragt sich der Zuhörer unwillkürlich, weshalb Alwyn nicht Daphne du Mauriers "Rebecca" als Stoff gewählt hat, die weit besser zu diesem Stil passen würde.
Apropos: Es gibt eine "Rebecca"-Oper. Sie stammt vom gleichfalls filmmusikerfahrenen Engländer Wilfred Josephs und liegt noch in keiner kommerziellen Aufnahme vor. Mehr dafürgestanden als eine zweite Einspielung von Alwyns "Miss Julie" wäre sie.