Es ist eine der perfidesten Kurzgeschichten, die jemals geschrieben wurden, eines Edgar Allan Poe würdig, der wohl auch Pate stand: Charles Villiers de l’Isle Adam ist heute nahezu vergessen, sollte es aber nicht sein. Seine "Grausamen Geschichten", irgendwann vom deutschen Blut-und-Ekel-Autor Hanns Heinz Ewers übertragen, später, dezenter für den Manesse-Verlag, von N. O. Scarpi, stehen inhaltlich wie stilistisch, vermittelt wohl durch Charles Baudelaires Poe-Übersetzungen, in der Dekadenz-Tradition des Amerikaners. Villiers beste Geschichte liest sich wie eine Vorahnung Franz Kafkas und heißt "Folter durch Hoffnung": Ein Gefangener der spanischen Inquisition kann seinem Kerker entkommen. Durch die labyrinthischen Gänge gelangt er in Freiheit - doch nur scheinbar, denn schon wartet auf ihn der Großinquisitor, der alles inszeniert hat, um erst Hoffnung zu wecken und sie dann zu zerstören.

Der italienische Komponist Luigi Dallapiccola (1904-1975) legte diese Erzählung seinem Einakter "Il prigioniero" zugrunde. Das Libretto verfasste er selbst. Dieses Werk, ein Hauptwerk der italienischen Oper nach Puccini, legt Chandos in einer mustergültigen Einspielung vor.
Dallapiccola kam stilistisch vom Neoklassizismus eines Gian Francesco Malipiero, ehe er sich für Arnold Schönbergs Reihentechnik zu interessieren begann. Ursprünglich war Dallapiccola angezogen von der futuristischen Ästhetik des Faschismus. Seine Saint-Exupéry-Oper "Volo di notte" (Nachtflug) ist eine Hymne auf den technischen Fortschritt, der höher steht als Menschenleben. Doch mit zunehmenden Repressalien und Benito Mussolinis Annäherung an den Nationalsozialismus samt dessen Antisemitismus wechselte Dallapiccola die Seiten. Er wandelte sich zum strikten Gegner des Faschismus und stellte diverse Aspekte des Freiheitsdenkens in den Mittelpunkt seines Schaffens, etwa auch in "Canti di prigiona" und in "Canti di liberazione".

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.
"Il prigioniero", 1949 komponiert, ist in seinem humanistischen Ethos fast ein Gegenentwurf zum "Volo di notte" und musikalisch ein Werk des Übergangs. Dallapiccola verfügte vorerst nur über rudimentäre Informationen über Schönbergs Zwölftontechnik. Anders als Schönberg, verwendet der Italiener mehrere Reihen und diese vor allem als Melodien. Seine Akkorde suchen tonale Assoziationen, eine stark aufgeraute traditionelle Harmonik scheint näher als Schönbergs reihentechnisch gebändigte Atonalität.
Das ist auch der Ausgangspunkt für die Interpretation des Dirigenten Gianandrea Noseda: Von den ersten drei Akkordsäulen über die Chorzwischenspiele bis zur Schlussklage, die das individuelle Schicksal des Gefangenen mit der Größe der Chöre des griechischen Theaters zum Menschheitsfanal der Sehnsucht nach Freiheit überhöht, nützt Noseda am Pult des fulminanten Danish National Symphony Orchestra Dallapiccolas Theaterpranke. Fern aller ohnedies längst verblassten Diskussionen, welchen Kriterien die Neue Musik entsprechen soll, entsteht vor den Ohren des Zuhörers eine glutvolle Oper, in der die jahrhundertelange italienische Tradition spürbar bleibt. In der Hauptrolle überzeugt Michael Nagy, als Mutter begeistert Anna Maria Chiuri, als Großinquisitor Stephan Rügamer.
Ergänzt wird die nur rund dreiviertelstündige Oper mit "Estate" und der ersten Serie der Michelangelo-Chöre, A-cappella-Werken Dallapiccolas, in denen der Danish National Concert Choir seine enorme Leistungsfähigkeit nachweisen kann.