"Toccata" veröffentlicht wahrlich erstaunliche CDs! Das Londoner Label hat sich den Repertoire-Nischen verschrieben. Selbst Raritäten-Sammler stehen regelmäßig an: Óscar da Silva? Henry Cotter Nixon? Walter Bricht? Wer hat diese Namen gehört - geschweige denn, ein Werk live aufgeführt erlebt?

Auf manch einen Komponisten kann man getrost verzichten - Epigonen von Epigonen sind auch auf CD von geringem Repertoirewert. Andere Begegnungen aber rechtfertigen die weniger ergiebigen Entdeckungsreisen.
Da wäre beispielsweise Julián Carillo (1875-1965). Anhänger der Avantgarde kennen den Mexikaner als Pionier der mikrotonalen Musik, die er ab 1925 propagierte und damit heftige Kontroversen auslöste. Darüber hinaus war Carillo als Dirigent und Lehrer maßgeblich am Aufbau des mexikanischen Musiklebens beteiligt.

Carillos Werke vor 1925, darunter die bemerkenswerte Oper "Matilde", wurzeln in der Romantik: Schwelgerische Melodien kontrastieren mit klaren Konturen, die Farbgebung orientiert sich an der französischen und der russischen Musik, Sergej Rachmaninov, César Franck und Camille Saint-Saëns sind aber eher Parallelen als Vorbilder. Überraschend ist, dass Carillo auf Einflüsse mexikanischer Folklore verzichtet und sich rein europäisch orientiert.

Die CD enthält die Zweite Symphonie und Ausschnitte aus "Matilde", beides Hauptwerk von Carillos erster Schaffensphase. Dazu kommen zwei hübsche Orchesterminiaturen: "A Isabel: Schottisch" und "Marcha Nupcial No. 2". Und man kann der CD auch entnehmen, dass in San Luis Potosi ein Orchester existiert, das unter der Leitung von José Miramontes Zapata sehr erfreulich musiziert.

Eine andere der Toccata-CDs könnte ein österreichisches Heimspiel sein, wäre als Orchester nicht das (übrigens hervorragende) Siberian Symphony Orchestra unter Dmitry Vasiliev engagiert worden: Der Wiener Julius Bittner (1874-1939) war Justizbeamter und entwickelte als Komponist eine Art österreichische Volksoper. Man bespöttelte ihn als "Anzengruber der Musik". Trotz seiner konservativen Haltung war er Gustav Mahler und dem Schönberg-Kreis freundschaftlich verbunden. Aufgrund seiner Diabetes verlor Bittner beide Beine und geriet, als seine Werke weniger gespielt wurden, in Geldnöte, aus denen ihn großzügige Zuwendungen seines Komponistenkollegen Erich Wolfgang Korngold heraushalfen.
Dass Bittner einem forschen Österreich-Patriotismus huldigte, mag heute befremden - in der Zeit bis nach dem Ersten Weltkrieg war Derartiges der Normalfall. Die Symphonische Dichtung "Vaterland" (1915) mag dem Titel nach hurra-patriotisch anmuten, aber manch Komponist hat in seiner Musik nicht nur die Heimat verherrlicht, sondern, wie Edward Elgar, sogar Propaganda betrieben. Man muss das wissen, um solche Werke historisch korrekt einzuordnen. Bittners "Vaterland", beeinflusst von Richard Strauss und Gustav Mahler, ist einfach herrliche Musik, nicht martialisch, sondern feierlich und schwärmerisch. In der f-Moll-Symphonie kommt Anton Bruckner als Einfluss hinzu: Das Werk ist geprägt von starken Spannungen und hymnisch aufstrahlenden Höhepunkten - es gilt, zwei Meisterwerke zu entdecken!