So jubiläumssüchtig der Klassikbetrieb ist, diesen Anlass hat er ausgelassen: Am 11. März hätte Astor Piazzolla sein 100. Wiegenfest gefeiert. Der Südamerikaner hat hierzulande jedoch keinen leichten Stand. Und wenig Raum. Sein Platz ist in der Zugabennische, da, wo der Virtuose in Geberlaune noch einen Tango aus dem Ärmel schüttelt. Dann gedenkt man des Argentiniers. Und hält ihn womöglich überhaupt für den Erfinder des Fachs.

Es wäre an der Zeit, mit diesem Missverständnis aufzuräumen. Den Tango gab’s längst, als Piazzolla 1921 das Licht der Welt erblickte, und das Genre war in Südamerika übel beleumundet. So mies, dass Piazzolla seine "sündigen" Stücke unterschlug, als er in Europa Komposition studierte. Ein Fehler, befand die legendäre Nadia Boulanger, nachdem sie Piazzollas "ernste" Werke für wenig eigenständig befunden hatte. Als sie die Tangos zu Gesicht bekam, herrschte sie ihn angeblich an: "Du Idiot! Merkst Du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? Du kannst die ganze andere Musik fortschmeißen!"

Oberton String Octet Tangabile -Astor Piazzolla (Oberton Records)
Oberton String Octet Tangabile -Astor Piazzolla (Oberton Records)

Bemerkenswert: Der Mann aus Mar del Plata hat sich aber auch danach nicht ganz von seinen Kunstmusik-Ambitionen verabschiedet. Zwar neigte Piazzolla als Bandeonist auf seinen Platten einer gewissen Schmusigkeit zu. Als Begründer des "Tango Nuevo" knüpfte er aber auch an die Klangeffekte von Strawinski und Bartók an, auch die Jazzharmonik ist in seine Partituren gesickert.

Matthias Goerne, Seong-Jin Cho Im Abendrot
Matthias Goerne, Seong-Jin Cho Im Abendrot

Dass diese Musik höheren Wert besitzt als zur Tanzbegleitung, beweist das neue Album des Oberton String Octet. Das heimische Ensemble legt gewissermaßen ein Greatest-Hits-Album des Argentiniers vor und bleibt weder "Libertango" noch "Oblivion" oder "Le Grand Tango" schuldig. Verblüffend dabei aber, wie avanciert die Ohrwürmer in den vorliegenden Arrangements klingen: "Libertango", gewürzt mit scharfen Dissonanzen und herben Streichereffekten, scheint regelrecht der europäischen Moderne entsprungen, die schwüle "Milonga del Angel" atmet fast den Geist des Impressionismus: Ein Hör-Abenteuer ohne wohlfeile Exotik und Stehgeigerschmalz.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Christoph Irrgeher.
"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Christoph Irrgeher.

Matthias Goerne steht als Bariton auf dem Zenit seiner Kunst, das Timbre ist ein Anschlag auf die Sinne: Im Brustregister zu herrschaftlicher Kraft fähig, verfügt er in hoher Lage über einen warmen, wachsweichen Ton, den er zu epischen Bögen zu binden versteht: Der 54-Jährige aus Weimar ist gewissermaßen der Legato-König des Baritonfachs. Er bezahlt dafür aber auch einen Preis: Der Geschmeidigkeit zuliebe deutet er Konsonanten oft nur an. Textdeutlichkeit ist darum nicht seine Domäne. Dieser Makel lastet auch ein wenig auf dem neuen Album "Im Abendrot", aufgenommen mit dem grandiosen Jungpianisten Seong-Jin Cho. Dafür finden die hier vertretenen, schwerblütigen Kunstlieder der Romantik in Goerne einen grandiosen Emotionsvermittler: Wie er in den Fluten von Hans Pfitzners "Wasserfahrt" eine donnernde Opernwucht entfaltet, wie er Richard Strauss’ "Abendrot" mit einer Phrase beschließt, die den Hörer wie eine sanfte Umarmung umkost, Hut ab: Hinreißender als auf diesem Album lässt sich der schillernde Gefühlshorizont rund um das Dichterthema Sonnenuntergang kaum darstellen.