Igor Strawinski war der Überzeugung, Interpretation sei Unfug. Die Ausführenden hätten lediglich die Noten so wiederzugeben, wie der Komponist sie geschrieben hat.

Igor Strawinski Le sacre du printemps u. a., Dirigent: Leonard Bernstein (Sony)
Igor Strawinski Le sacre du printemps u. a., Dirigent: Leonard Bernstein (Sony)

Strawinski selbst spielte den größten Teil seines Werks selbst für das Label CBS (heute Sony) ein.

Seither gibt es ein Problem.

Igor Strawinski Le sacre du printemps u. a., Dirigent: Riccardo Chailly (Decca)
Igor Strawinski Le sacre du printemps u. a., Dirigent: Riccardo Chailly (Decca)

Strawinski war, neben Béla Bartók, der bedeutendste Komponist seiner Generation. Aber er war ein miserabler Dirigent. Ihm fehlte sowohl die Schlagtechnik wie eine über den Notentext hinausgehende Vorstellungskraft.

Strawinski ging als Dirigent meist so vor, dass er die Aufführungen nach seinen Vorstellungen vorbereiten ließ, bei den Aufnahmen war Robert Craft dieser Assistent, und dirigierte dann zum entsprechend gedrillten Orchester. Spiritus rector bleibt er dessen ungeachtet. So erhebt sich für jeden Dirigenten die Frage, ob diese Aufnahmen bindend sind.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.

"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.

Anlässlich des 50. Todestages des Komponisten (Strawinski starb am 6. April 1971) legen zwei Labels nun höchst unterschiedliche Strawinski-Boxen vor: Sony veröffentlicht Leonard Bernsteins Aufnahmen für CBS, Decca die von Riccardo Chailly. Während Chailly Strawinskis eigene Aufnahmen zumindest als Leitlinie auffasst, geht Bernstein seinen eigenen Weg. Beides ist legitim und führt zu hervorragenden Einspielungen.

Bernsteins Strawinski kann man nicht hoch genug preisen: Kein Dirigent erzeugt beim "Sacre du printemps" (in zwei Aufnahmen enthalten) eine ähnliche infernalische Glut, einen vergleichbaren Exzess an Brutalität. Grelle Energieströme durchfließen "Petruschka", der "Feuervogel" wird zum spätromantischen Farbenrausch - mit einem beispiellos aufgepeitschten Höllentanz.

Das alles erwartet man von einem Bernstein. Aber er geht auch mit den neoklassischen Werken ideal um. Er gestaltet sie aus dem tänzerischen Impuls heraus: Die "Geschichte vom Soldaten" ist akustisch eingefangenes Bewegungstheater - aber selbst vermeintlich Ausgetrocknetes wie das Oktett oder das Konzert für Klavier und Bläser haben bei Bernstein diese überzeugende Qualität der Körperlichkeit. Am schönsten vielleicht: der dunkle, gar nicht kühle, sondern mit verdischem Brio aufgeladene "Oedipus rex" und die Psalmensinfonie mit ihrer religiösen Ekstase.

Bei Chailly klingt das ganz anders: Bei ihm spürt man die von Strawinski beabsichtigte Distanz. Solch kühle Genauigkeit hat viel für sich - lässt aber beim "Sacre" und beim "Feuervogel" auch unberührt. Gewiss: Dermaßen klar und scharf bei aller sinnlichen Klangschönheit hat man die Werke selten gehört. Aber Chailly bleibt bei Noten und Taktstrichen, wo es Bernstein um Leben und Tod geht.

Die Chailly-Box enthält, neben zahlreichen kleineren Werken, eine fulminante Aufnahme der sonst so ausgeblutet anmutenden Oper "The Rake‘s Progress" und, um nur drei weitere Höhepunkte zu nennen, die Ballettmusiken "Apollon musagètes", "Jeu de cartes" und den wunderbaren späten "Agon". Manches ist verdoppelt - beim "Sacre" zum Glück, denn die Aufnahme mit dem Lucerne Festival Orchestra ist mäßig, während die mit Cleveland geradezu sensationell ist.

Dass man, genau genommen, beide Boxen in der Sammlung haben muss, versteht sich von selbst.